Liebe Mathilda,
wie fange ich an, da ich mich heute doch so ganz anders fühle als gestern. Ich bin total erleichtert und habe die halbe Nacht nicht geschlafen.
Zuviel Adrenalin?
Zuviel Lärm um Sachen, die dann gar nicht eingetreten sind und stattdessen besser wurden als gedacht?
Sind Schmetterlinge im Bauch nichts anderes als eine Unterform der inneren Unruhe? Ich war voll davon als ich mein Auto parkte und auf den abgesteckten Läuferbereich zuging. Mir war nicht mal klar, ob ich Flo dort treffen würde. Eher beschäftigte ich mich ja damit, wie ich - sollte es nicht vermeidbar sein - seiner Frau gegenübertreten würde. Deine kräftigenden Worte waren gut und wirkungsvoll in meiner Hosentasche verwahrt. Dann und wann nahm ich taktilen Kontakt zu dem kleinen Zettelchen auf. Ich wusste ja was drauf stand, hatte es mir den ganzen Tag immer wieder durchgelesen. Sowohl lauftechnisch als auch psychisch hätte ich nicht besser vorbereitet sein können.
Ich trete auf den Rasen, auf dem sich bereits bunte Rucksäcke, Läufer und Wasserflaschen wie verstreute Farbtupfer eingefunden haben. Etwas verloren und unheimlich aufgeregt komme ich mir vor bis ich nach endlosen Minuten zwei meiner Mitläufer entdecke. Wir begrüßen uns. Kurz darauf sehe ich aus einiger Entfernung Dr. Florian A. Mollis den Rasen betreten. Die Welt steht still. Ich brauche gar nicht genau hinsehen, denn schon aus dem Augenwinkel erkenne ich ihn - in Laufklamotten - seine Laufschuhe bereits an den Füßen! Stein fällt. Mir ist in dem Moment völlig egal, warum er sich nun offensichtlich doch entschieden hat zu laufen (körperliche Spontanheilung oder psychisches Einknicken?), denn nun habe ich das untrügliche Gefühl, dass alles ganz wunderbar werden wird. Als er in unserem Pulk angekommen ist, begrüßen Flo und ich uns mit sicherem Abstand. Auch ich habe bereits meine Laufschuhe und -klamotten an und fühle mich sportlich und attraktiv. Und schon etwas lockerer. Unser Team ist komplett. Die Reihenfolge der Läufer schnell festgelegt: Eva als Dritte, Flo als Fünfter. Wir stecken uns in einer fast meditativen Abfolge die Startnummern an den Bauch. Vier Sicherheitsnadeln – an jeder Ecke eine – haben eine seltsam beruhigende Wirkung. Danach werden Fotos gemacht. Wir werden gebeten uns als Team aufzustellen. Ich gerate links neben Flo. Kameradschaftlich-sportlich legen wir die Arme umeinander - zumindest sieht´s nach außen so aus. Er fängt damit an und für mich gibt es kein Halten mehr. Natürlich tue ich es ebenso. Innerlich bin ich wie abgehoben, spüre seine warme Haut und dass er nichts unter seinem T-Shirt trägt. Was ich da spüre ist hart und weich zugleich. Ich genieße dieses Wechselbad und spüre wie ich das hier aufschreibe noch immer meine Handfläche, die seine warme Schulter berührt. Hab da wohl auch ein bisschen rumgestrichen auf seinem Schulterblatt. Bin gespannt auf die Bilder - in Selbstdarstellung sind wir beide gut!
Dann sieht sich unser Team den Platz für die Staffelstabübergabe an, was bei Tausenden von Leuten relativ kompliziert ist. Wir verabreden einen Treffpunkt und unser Erkennungszeichen. Da sagt plötzlich unsere vierte Läuferin, dass sie doch gerne früher laufen würde und fragt, ob jemand mit ihr tauscht. Ich - natürlich sofort im Hinterkopf, dass ich Flo dann den Stab geben würde - stimme zu. Nummerntausch und neue Reihenfolge. Ab da sehe ich ihn kaum noch, habe aber das gute Gefühl, dass alles klappen wird.
Tino ist inzwischen eingetroffen und wir haben uns in dem Gewimmel tatsächlich gefunden. Als wenn es so sein soll. Erst versuche ich noch zu vermeiden, ihn in unser Lager zu führen, dann denke ich, dass ich es ohne die ganze Flo-Sache ganz natürlich getan hätte. Und so gehe ich die Gefahr ein, dass ich sich Tino und Flo begegnen. Ich hatte die ganze Zeit Angst vor einer Begegnung mit Flo´s Frau. Es kommt mir nicht in den Sinn, dass es auch Flo unangenehm sein könnte, meinem Mann zu begegnen. Hätte ich ihn vorwarnen sollen? Die ganze Situation kommt mir ziemlich irreal vor als ich mit Tino in den Laufbereich gehe. Tino, Konstantin – mein wahrer Held. Sportlich und groß und gutaussehend steht er da, mit der vorsichtigen Zurückhaltung, die ihm innewohnt, wenn er auf viele fremde Menschen trifft. Ich erkläre ihm, wer noch in meinem Team läuft und deute von Weitem auf Flo, mit dem ich währenddessen einen Millisekundenblickkontakt habe. Flo bewegt sich nicht von der Stelle, versucht wohl durch Regungslosigkeit unsichtbar zu werden. Kontaktvermeidung. Es muss eine unangenehme Situation für ihn sein. Ich habe stets für alle immer großes Verständnis, aber irgendwie ist die Kapazität dafür erschöpft. Jetzt denke ich nur noch, da muss Flo jetzt durch. Ich habe schließlich seit Donnerstag gelitten und mir den Kopf zerbrochen was wäre, wenn ich hier seine Frau treffe. Und Flo hätte ja auch mit mir sprechen können - macht er aber bekanntlich nicht.
Rechtzeitig gehe ich mit Konstantin in den Startbereich, wo wir uns während meines Aufwärmens lange verabschieden. Ein treuer Gefährte an meiner Seite. Ich bin heiß und will laufen. Im Startbereich Gedrängel, doch die Übergabe von meiner Vorläuferin klappt super. Ich starte die 8 Titel meiner "Showdown"-Playlist und laufe los:
1. Walking desasters - The Wombats: Genau mein Tempo. Ich freue mich, dass ich die ganze Anspannung endlich in körperliche Aktivität umsetzen kann. Meine Musik ist sorgfältig ausgesucht. Verschiedene Titel lösen verschiedene Gedanken und Erinnerungen aus. Es ist fröhlich und rhythmisch, ein bisschen auch über sich selber lachen. Eben walking desasters.
2. Gimme Sympathy - Metric: Die Atmosphäre ist toll: Auf einer abgesperrten mehrspurigen Straße bei Sonnenschein zu laufen und dabei angefeuert zu werden, schmeichelt einer narzißtischen Seele. Ich halte den Stab mit sicherem Griff und verliere ihn nicht wie in meinem Albtraum vorletzte Nacht. Ich bin stolz auf mich, dass ich es hierher gebracht habe, lasse Revue passieren, was zwischen Flo und mir war, was ich mich getraut habe. In mir ist noch immer dieses hoffnungsvolle Gimme Sympathy.
3. Our perfect disease - The Wombats: Ich versuche nicht an die allmählich aufkommende Anstrengung zu denken. Hier ist mein Rhythmus. Hier sind meine Schritte. Ich lenke mich ab: Gibt es eine schönere Störung als sich unverhofft zu verlieben? The perfect disease.
4. Tokyo (Vampires and wolves) - The Wombats: Die Hälfte ist geschafft. Ein großes Stück liegt hinter mir - ein ebenso großes liegt noch vor mir. Manchmal habe ich es satt, gegen die Mauer zu rennen, die Flo nicht bereit ist einzureißen. "I´m sick of dancing with the beast" singen die Wombats sehr treffend.
5. You and me song - The Wannadies: Es zieht sich und ich merke, dass es schwer wird. Dann stelle ich mir vor wie ich Flo gleich den Stab übergeben werde. Das motiviert mich!
6. Techno Fan - The Wombats: Zu diesem Zeitpunkt tritt wie üblich die Frage auf, warum tue ich mir das eigentlich an? 5 km zu laufen. Nicht nachdenken, einfach weiterlaufen. "Shut up and move with me..."
7. Titanium - David Guetta feat. Sia: Das Ziel wird greifbar, denn ich habe Kilometer 4 längst hinter mir gelassen. Mit Titanium hole ich das Letzte aus mir heraus. Ich will so schnell wie möglich bei Flo sein. Ich will meinen persönlichen Rekord.
8. Ours - The Bravery: Zu dem auch hier sehr treffenden "This time ist ours" laufe ich ins Ziel ein. Ich scanne die Masse und erblicke Flo. Ich brauche kein Erkennungsmerkmal. Er ist mein Erkennungsmerkmal und ich übergebe ihm den Stab fertig und lächelnd. Bevor er sich davonmacht, sagt er anerkennend, dass ich toll gelaufen bin. Tino steht am Rand und hat meinen Zieleinlauf gefilmt. Wir fallen uns in die Arme als ich den Wechselbereich verlassen habe. Wir freuen uns gemeinsam. Ist das eigentlich fies von mir, die beiden so dicht aufeinandertreffen zu lassen? Nun ja, ich habe nicht gewusst wie ich es hätte verhindern können. Sicherlich hat mich das alles in einer besonderen Art und Weise angespornt. Am Ende steht bei mir eine Zeit von 27 Minuten - so schnell wie ich noch nie gelaufen bin. Wozu uns Gefühle doch antreiben können...
Das alles ist schon sehr aussagekräftig für meine Gesamtsituation: Konstantin ist mein Fels in der Brandung und immer für mich da. Flo sticht in der Masse heraus und macht sich davon. Und ich kann für das alles nichts?
Tino und ich gehen wieder ins Lager, wo es Getränke, Snacks und gute Laune gibt. Jetzt wo Flo auf der Strecke ist, kann ich das auch mit einiger Gelassenheit und einem Überschuß an Endorphinen sehen. Aufgelockerte Atmosphäre. Man kommt leicht ins Gespräch. Frau Z., die auch hier ist, wirkt selber sehr gelöst und scheint beeindruckt von mir. Jetzt warten wir auf Flo und die Antwort auf die bange Frage: Wird das Bein halten? Er trifft nach einer ebenso guten Zeit im Ziel ein und ist bald umringt von anderen Läufern. Nach einer Weile trete ich näher an den Pulk heran, Tino steht etwas an der Seite. Ich wäre der ganzen Situation entsprechend nicht weiter hineingegangen (wegen Tino und wegen Flo - Wie ich doch für alle sorge!) doch da sagt Frau Z. in einer Anwandlung von Teamzusammenführung plötzlich zu Flo "Frau Cormann wollte Dir auch noch zu Deinem Lauf gratulieren." Hätte ich gerade was getrunken, hätte ich mich verschluckt. Wie müssen Flo und ich nach außen hin wirken? Distanziert? Ignorant? Und doch spielen wir das, um den Eindruck zu übertünchen, dass wir uns ein bisschen zu sehr mögen. Die Verwaltungschefin ist hier allerdings um Teambildung bemüht. Mir kommt zugute, dass ich zu diesem Zeitpunkt schon ein Glas Sekt in mir habe, der sich mit dem vom Laufen angekurbelten Kreislauf enorm schnell verteilt. Ich ergreife die Chance, die wohl ohne Alkohol und Ansage der Verwaltungsleiterin nie umgesetzt worden wäre. Flo und ich - wir lächeln uns an, fassen uns etwas unbeholfen an beide Hände (Was soll das werden? Ein Tanz?). Ich sage irgendwas über seinen Lauf. Keine Ahnung was. Gehirnaktivität war mit anderen Sachen beschäftigt. Dann deute ich durch meine Körperhaltung den Wunsch einer Umarmung an, beuge mich vor und JA JA JA JA JA er macht mit! Ich spüre seine borstigen Haare an meiner Wange und seinen warmen Oberkörper. Fazit: Dieser Moment war die ganze Aufregung wert!
Ok, irgendwann hören wir wieder auf mit dem Umarmen. Ich drehe mich zu Tino um und hole ihn näher heran. Ich frage "Kennt Ihr Euch eigentlich schon?" Flo sagt ein bisschen pikiert "Nein, wir kennen uns noch nicht." Ich stelle die beiden einander vor und sie geben sich die Hand. Das ist an Absurdität kaum zu übertreffen. Na klar, tut mir Tino leid, der hier der einzig Ahnungslose in dieser Dreierkonstellation ist, aber irgendwie bin ich auch froh, dass er an meiner Seite ist. Es ist eine Mischung aus Stolz (meinen Partner zu präsentieren), Annäherung an Flo und auch dem Wunsch, Flo zu verunsichern. Ich spüre, dass das Flo irgendwie unangenehm ist. Schließlich wusste er nicht, dass Tino nicht eingeweiht ist und ich bilde mir ein wenigstens eine kurze Verunsicherung in seinen Augen gesehen zu haben, ob ihm mein um einen Kopf größerer Mann nicht eine aufs Maul gibt. Wirklich eine absurde Situation, die ich da hergestellt habe. Da hilft nur: noch mehr Sekt, was wohl auch Flo so empfindet. Er schenkt mir nach und trinkt selber. Sekt, nette Unterhaltung und oh ja, noch ein gemeinsames Foto. Unser Team ist mittlerweile auf 3 Läufer geschrumpft. Die verbliebene Läuferin und ich nehmen Flo in die Mitte. Und ... dabei darfichihnnochmalanfassen (hyperventilier)! Wieder mein Arm, meine Hand auf seiner Schulter, die sich einfach super zum Streicheln eignet. Und seine warme Hand an meiner Taille. Ich krieg die Krise! Mehr ertrag ich nicht. Ich bin voll von positiven Eindrücken. Neue Aufgeregtheit ist der Anspannung gewichen. Besser wird es nicht beschließen Tino und ich und verabschieden uns.
Aufgeregte und tollste Grüße,
Eva