Liebe Mathilda,
scheiß Gefühle!
Wie werde ich sie bloß los? Es tut verdammt weh, denn ich kann immer klarer
sehen, dass Flo nicht genug für mich empfindet. Nicht genug!
Mein Plan war eigentlich genial. Ich sah gestern heiß aus und bin
auch ein paarmal sehr selbstbewusst an ihm vorbeigeschwebt. Keine Ahnung, ob er
innerlich mit den Ohren geschlackert hat. Wie wir uns mehrmals auf dem Flur
begegneten und immer so aneinander vorbeiliefen, war das eigentlich ganz schön.
Mir ist ja so langsam jedes Mittel recht, außer wenn es so aussieht als würde
ich mich ihm anbieten. Meine neue Strategie ist nun: nicht mehr verbal über
unsere „Verbindung“ kommunizieren, sondern nonverbal. Ich dachte, er ist auch
nur ein Mann und da kann ich meine Reize schließlich einsetzen. Und so trug ich
gestern den „verboten“ gut aussehenden Rock und tanzte ihm so richtig attraktiv
und gaaaaaaaaaanz zufällig immer vor der Nase herum. Was dann passierte als wir
zusammen Mittagessen waren, war weniger schön. Zunächst mal sah er mich nicht
wie ich da bereits an einem Tisch saß, sondern setzte sich woanders hin bis ihn
eine Ärztin darauf aufmerksam machte. Sie meinte dann scherzhaft zu mir, dass
sie das persönlich nehmen würde. Ich stimmte ihr ebenso scherzhaft zu. Wozu er
lustig und ertappt sagte, dass wir ja mal hätten winken können. Schnucki, wenn
das, was ich tue, kein Winken ist, weiß ich auch nicht. Auf jeden Fall unterhielt er sich dann die
ganze Zeit mit dieser Ärztin. Sie hatten wohl eine gemeinsame Studienzeit
entdeckt. Es war kaum ein Reinkommen ins Gespräch möglich. Es war mir sehr
unangenehm, so als sei ich da fehl am Platz. Er konnte mich nicht mal ansehen.
Oder er wollte mich nicht mal ansehen. Hat völlig den Kontakt abgeschnitten.
Man könnte hier mutmaßen, dass er sich in Sicherheit bringt, denn sonst fallen
ihm ja ausnahmslos alle attraktiven und ästhetischen Momente auf. Er muss sich
richtig Mühe gegeben haben, mich zu ignorieren. Und als wir dann zu mehreren
aus der Kantine wieder zurückgingen, kam das Thema auf eine unserer Klientinnen
mit einem Alkoholabusus zu sprechen:
F. "Ich habe
die Alkoholabhängigkeit aus dem Arztbrief genommen."
E. "Warum
denn das?" Das ist meine Chance in das noch immer sehr arztlastige Gespräch
einzusteigen. Und nun kann er mich nicht weiter ignorieren:
F. "Hat die
Klientin denn dir gegenüber zugegeben, dass sie alkoholabhängig ist?" Ich
merke wie ich beim Schreiben schon wieder hochfahre! Ich bin wohl nicht die
einzige von uns beiden, die provozieren will.
E. „Nein,
aber dass ist doch ein Symptom der Krankheit!" versuche ich es
auf der sachlichen Ebene.
F. "Na, es
gibt schon Abhängige, die sich das eingestehen." Glaubt er eigentlich
selbst, was er da sagt? Daraufhin eine der auch noch anwesenden Ärztinnen:
G. „Aber selten.“
E. "Das geht
an der Realität vorbei. Bei z.B. Somatisierungspatienten vergibt man die
Diagnose auch und gerade, weil die Krankheitseinsicht fehlt. Die fehlende
Einsicht ist sogar ein Kriterium für die Erkrankung."
F.
"Mhh."
E. "Die
Klientin hatte sogar einen Tremor als sie stationär bei uns war."
Wieviel Hinweise brauchst du denn noch?
F "Ja, und
bei mir im Gespräch hatte sie sogar eine Fahne." Häääh? Jetzt verstand ich
überhaupt nichts mehr. Lässt er die Diagnose nun gelten oder nicht.
E. "Aber
warum hast du denn dann die Diagnose aus dem Brief genommen?" Ich
wollte ihn ja nicht verhören, aber irgendwie tat ich das schon.
F. "...Weil
ich es NICHT MIT DER KLIENTIN BESPROCHEN HABE!" Das war laut! Ich konnte
ihn nur fassungslos über seine unpassende Intonation anstarren.
E.
"Mhh?" Er bemerkt das und spricht sanfter, rechtfertigender weiter:
F. "Ich
bespreche sonst mit den Klienten alles, was im Brief steht."
E. "Ach so.
Na gut."
Das Ende des
Gesprächs war kalt und abgewürgt. Kalte Blicke von ihm und wahrscheinlich auch
von mir. Ich wollte das gar nicht. Ich wollte locker und leicht mit ihm
kommunizieren. Stattdessen ist das einzige, worüber ich mit ihm ins Gespräch
finde ein absurdes Detail in einem Arztbrief, auf das ich ihn festnagele! Keine
Ahnung wer jetzt Recht hatte. Einmal mit diesem Gespräch angefangen, hatte ich
immer nur das Gefühl, dass ich das nicht so stehen lassen kann. Ich will ja
schließlich kein Mäuschen sein, das nur bewundernd zu ihm aufblickt und alles
bedingungslos akzeptiert, was er tut. Und ich glaube das will er auch nicht.
Das fasziniert ihn zumindest nicht. Vielleicht hat das ja die positive
Konsequenz, dass er am Wochenende an mich denkt. Naja, man denkt auch an
Bankräuber und Amokläufer, aber sind sie deswegen toll? Verlieben tut man sich
deswegen nicht in sie. Es ging nicht darum, dass er die Diagnose („meine
Diagnose“) anzweifelte, sondern darum, dass er sie nicht mit der Klientin
thematisiert habe. Eigentlich legetim und nachvollziehbar. Warum sagt er das
nicht gleich? Sieht ja wohl ein Blinder, dass hier auf einem Nebenschauplatz
die Beziehungsebene ausgetragen wird.
Ich bin dann
ziemlich schnell gegangen, geflüchtet und habe mich in meinem Büro
verbarikadiert und geheult. Fakt ist, dass er einfach eine Diagnose gestrichen
hat. Darf er das? Ja klar, darf er das. Und ich darf ihn auch darauf ansprechen
und nachfragen. Wahrscheinlich sieht er das gar nicht so dramatisch. Ich hätte
mir gewünscht, dass er das mit mir besprochen hätte. Er hat keine Ahnung davon,
welche inneren Kämpfe ich ausstehe. Das war der Augenblick, wo ich versucht
habe, Dich zu erreichen. Ich dachte dann, dass diese Situation kurz vor dem
Wochenende ziemlich beschissen ist und hatte den Impuls, ihn anzurufen –
und habe widerstanden. Ich habe die
Spannung irgendwie ausgehalten… und wie du gesagt hast aus dem Fenster geguckt
und Luft geholt. Ich war so wütend auf mich selbst und auf F.! Ich habe mir
überlegt, was es mir bringen würde, ihn nach der Aktion anzurufen. Es war mehr
so ein innerer Drang, weil das Wochenende vor der Tür stand und ich dachte „Toll,
damit kann ich mich nun das ganze Wochenende beschäftigen!“ Schon ein
Scheißgefühl. Und dann überlegte ich, was es wirklich an seiner Haltung ändern
könnte, wenn ich ihn anrufe. Ihm würde nur bewusst wie tief ich immer noch drin
stecke. Und das habe ich ihm ja gesagt, da besteht also kein weiterer Bedarf.
Es wäre für meine eigene Beruhigung gewesen, dass „alles zwischen uns gut ist“.
Lustig, was ist schon „gut“ zwischen uns? Ich weiß, was er nicht will oder sich
nicht eingestehen kann. Es wäre für mich. Es wäre aber nur etwas, was es mir
noch schwerer machen würde, mich von ihm zu lösen. Ich mag ihm nicht zwingend
zeigen wie schlecht es mir geht. Und dann wieder denke ich, sollte ich genau
das tun. Dazu habe ich dann wieder Fantasien, die auf keine Kuhhaut gehen. Ich
könnte zu ihm gehen, unter Tränen, ihm zeigen wie schwer mir das alles fällt,
ihn um eine Umarmung bitten (was er nur schwer ablehnen könnte) und ich würde
mich in seinen Haaren vergraben, seinem Duft atmen, seine Wärme spüren, ihm seine
Fähigkeit nehmen noch eine Grenze zu ziehen. Und all diese puren Erfahrungen
könnten in einen leidenschaftlichen Kuss übergehen.
Also habe ich
mich nicht bei ihm gemeldet, packte meine Sachen und verließ die Klinik. Beim
Rausgehen kam er mir entgegen, etwas taxierend, dann vorsichtig und bald
darauf zuckersüß lächelnd, mir ein schönes Wochenende wünschend und mir
die Tür aufhaltend. Das kann er wirklich gut. Ist das nun mehr eine aufgrund
seines Harmoniebedürfnisses antrainierte Fassade oder ein ehrlich gemeintes
"Alles wieder okay?" Ich danke, wem auch immer, für diese Begegnung,
die mich jetzt am Wochenende etwas ruhiger sein lässt. Hab dann zu Hause alles
noch mal aufgeschrieben und dann ging es schon. Habe mir vorgenommen, dieses
Wochenende nicht an ihn zu denken und bin bereits gescheitert. Dann habe ich
gestern ab 20 Uhr durchgeschlafen, weil ich völlig erschöpft war. Solche
Gefühlsüberwallungen strengen einfach mordsmäßig an! Vorhin war ich laufen und
jetzt fühle ich mich ganz gut.
Dass mit der
Spannung und der Auseinandersetzung gefällt mir. Vielleicht ist das wirklich
so. Gut, dass ich
nicht angerufen habe. So kann ich mich erst mal sortieren überlegen, was ich
weiter mache, kann die Mitleidstour überdenken. Sollte ich wirklich heulend zu
ihm gehen und mir eine Umarmung abholen? Ist es das, womit ich ihn kriegen
könnte? Sind solche depressiven Gefühle nicht das letzte, was er gebrauchen
kann? Oder sind sie es, die ihn weich werden lassen? Aktuell testen wir auf der
fachlichen Ebene unsere Standfestigkeit. Das ist etwas, was ich keinesfalls suche
und brauche aber es ist aktuell eine Möglichkeit mit ihm in Kontakt zu kommen.
Ich sollte mich einfach nur noch um mich selbst kümmern und nicht darum, was Flo
will. Aber das ist es ja gerade, wenn man verliebt ist. Ich sorge mich um ihn.
Er macht äußerlich einen ganz stabilen Eindruck. Ich wohl auch. Das hat ja
nichts mit den inneren Prozessen zu tun. Wenn mein relativ unüberlegtes
Geständnis im November Unruhe in sein Leben gebracht hat, dann wird mein ganz
konkreter Vorschlag nach einer Affäre sein Leben erheblich ins Wanken gebracht
haben. Und damit kämpfen wir nun beide.
„Shit happens:
Mal bist du die Taube, mal bist du das Denkmal.“
Eckart von
Hirschhausen
Die Frage ist,
wer ist Taube und wer ist Denkmal. Mal so, mal so. Wir reagieren aufeinander,
so viel ist sicher. Es lässt ihn nicht kalt. Und das ist mehr als nichts.
Eva
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