Samstag, 16. März 2013

Mehr als nichts, aber nicht genug

Liebe Mathilda,

scheiß Gefühle! Wie werde ich sie bloß los? Es tut verdammt weh, denn ich kann immer klarer sehen, dass Flo nicht genug für mich empfindet. Nicht genug!

Mein Plan war eigentlich genial. Ich sah gestern heiß aus und bin auch ein paarmal sehr selbstbewusst an ihm vorbeigeschwebt. Keine Ahnung, ob er innerlich mit den Ohren geschlackert hat. Wie wir uns mehrmals auf dem Flur begegneten und immer so aneinander vorbeiliefen, war das eigentlich ganz schön. Mir ist ja so langsam jedes Mittel recht, außer wenn es so aussieht als würde ich mich ihm anbieten. Meine neue Strategie ist nun: nicht mehr verbal über unsere „Verbindung“ kommunizieren, sondern nonverbal. Ich dachte, er ist auch nur ein Mann und da kann ich meine Reize schließlich einsetzen. Und so trug ich gestern den „verboten“ gut aussehenden Rock und tanzte ihm so richtig attraktiv und gaaaaaaaaaanz zufällig immer vor der Nase herum. Was dann passierte als wir zusammen Mittagessen waren, war weniger schön. Zunächst mal sah er mich nicht wie ich da bereits an einem Tisch saß, sondern setzte sich woanders hin bis ihn eine Ärztin darauf aufmerksam machte. Sie meinte dann scherzhaft zu mir, dass sie das persönlich nehmen würde. Ich stimmte ihr ebenso scherzhaft zu. Wozu er lustig und ertappt sagte, dass wir ja mal hätten winken können. Schnucki, wenn das, was ich tue, kein Winken ist, weiß ich auch nicht.  Auf jeden Fall unterhielt er sich dann die ganze Zeit mit dieser Ärztin. Sie hatten wohl eine gemeinsame Studienzeit entdeckt. Es war kaum ein Reinkommen ins Gespräch möglich. Es war mir sehr unangenehm, so als sei ich da fehl am Platz. Er konnte mich nicht mal ansehen. Oder er wollte mich nicht mal ansehen. Hat völlig den Kontakt abgeschnitten. Man könnte hier mutmaßen, dass er sich in Sicherheit bringt, denn sonst fallen ihm ja ausnahmslos alle attraktiven und ästhetischen Momente auf. Er muss sich richtig Mühe gegeben haben, mich zu ignorieren. Und als wir dann zu mehreren aus der Kantine wieder zurückgingen, kam das Thema auf eine unserer Klientinnen mit einem Alkoholabusus zu sprechen:

F. "Ich habe die Alkoholabhängigkeit aus dem Arztbrief genommen."

E. "Warum denn das?" Das ist meine Chance in das noch immer sehr arztlastige Gespräch einzusteigen. Und nun kann er mich nicht weiter ignorieren:

F. "Hat die Klientin denn dir gegenüber zugegeben, dass sie alkoholabhängig ist?" Ich merke wie ich beim Schreiben schon wieder hochfahre! Ich bin wohl nicht die einzige von uns beiden, die provozieren will.

E. „Nein, aber dass ist doch ein Symptom der Krankheit!" versuche ich es auf der sachlichen Ebene.

F. "Na, es gibt schon Abhängige, die sich das eingestehen." Glaubt er eigentlich selbst, was er da sagt? Daraufhin eine der auch noch anwesenden Ärztinnen:

G. „Aber selten.“

E. "Das geht an der Realität vorbei. Bei z.B. Somatisierungspatienten vergibt man die Diagnose auch und gerade, weil die Krankheitseinsicht fehlt. Die fehlende Einsicht ist sogar ein Kriterium für die Erkrankung."

F. "Mhh."

E. "Die Klientin hatte sogar einen Tremor als sie stationär bei uns war." Wieviel Hinweise brauchst du denn noch?

F "Ja, und bei mir im Gespräch hatte sie sogar eine Fahne." Häääh? Jetzt verstand ich überhaupt nichts mehr. Lässt er die Diagnose nun gelten oder nicht.

E. "Aber warum hast du denn dann die Diagnose aus dem Brief genommen?" Ich wollte ihn ja nicht verhören, aber irgendwie tat ich das schon.

F. "...Weil ich es NICHT MIT DER KLIENTIN BESPROCHEN HABE!" Das war laut! Ich konnte ihn nur fassungslos über seine unpassende Intonation anstarren.

E. "Mhh?" Er bemerkt das und spricht sanfter, rechtfertigender weiter:

F. "Ich bespreche sonst mit den Klienten alles, was im Brief steht."

E. "Ach so. Na gut."

Das Ende des Gesprächs war kalt und abgewürgt. Kalte Blicke von ihm und wahrscheinlich auch von mir. Ich wollte das gar nicht. Ich wollte locker und leicht mit ihm kommunizieren. Stattdessen ist das einzige, worüber ich mit ihm ins Gespräch finde ein absurdes Detail in einem Arztbrief, auf das ich ihn festnagele! Keine Ahnung wer jetzt Recht hatte. Einmal mit diesem Gespräch angefangen, hatte ich immer nur das Gefühl, dass ich das nicht so stehen lassen kann. Ich will ja schließlich kein Mäuschen sein, das nur bewundernd zu ihm aufblickt und alles bedingungslos akzeptiert, was er tut. Und ich glaube das will er auch nicht. Das fasziniert ihn zumindest nicht. Vielleicht hat das ja die positive Konsequenz, dass er am Wochenende an mich denkt. Naja, man denkt auch an Bankräuber und Amokläufer, aber sind sie deswegen toll? Verlieben tut man sich deswegen nicht in sie. Es ging nicht darum, dass er die Diagnose („meine Diagnose“) anzweifelte, sondern darum, dass er sie nicht mit der Klientin thematisiert habe. Eigentlich legetim und nachvollziehbar. Warum sagt er das nicht gleich? Sieht ja wohl ein Blinder, dass hier auf einem Nebenschauplatz die Beziehungsebene ausgetragen wird. 

Ich bin dann ziemlich schnell gegangen, geflüchtet und habe mich in meinem Büro verbarikadiert und geheult. Fakt ist, dass er einfach eine Diagnose gestrichen hat. Darf er das? Ja klar, darf er das. Und ich darf ihn auch darauf ansprechen und nachfragen. Wahrscheinlich sieht er das gar nicht so dramatisch. Ich hätte mir gewünscht, dass er das mit mir besprochen hätte. Er hat keine Ahnung davon, welche inneren Kämpfe ich ausstehe. Das war der Augenblick, wo ich versucht habe, Dich zu erreichen. Ich dachte dann, dass diese Situation kurz vor dem Wochenende ziemlich beschissen ist und hatte den Impuls, ihn anzurufen – und habe widerstanden.  Ich habe die Spannung irgendwie ausgehalten… und wie du gesagt hast aus dem Fenster geguckt und Luft geholt. Ich war so wütend auf mich selbst und auf F.! Ich habe mir überlegt, was es mir bringen würde, ihn nach der Aktion anzurufen. Es war mehr so ein innerer Drang, weil das Wochenende vor der Tür stand und ich dachte „Toll, damit kann ich mich nun das ganze Wochenende beschäftigen!“ Schon ein Scheißgefühl. Und dann überlegte ich, was es wirklich an seiner Haltung ändern könnte, wenn ich ihn anrufe. Ihm würde nur bewusst wie tief ich immer noch drin stecke. Und das habe ich ihm ja gesagt, da besteht also kein weiterer Bedarf. Es wäre für meine eigene Beruhigung gewesen, dass „alles zwischen uns gut ist“. Lustig, was ist schon „gut“ zwischen uns? Ich weiß, was er nicht will oder sich nicht eingestehen kann. Es wäre für mich. Es wäre aber nur etwas, was es mir noch schwerer machen würde, mich von ihm zu lösen. Ich mag ihm nicht zwingend zeigen wie schlecht es mir geht. Und dann wieder denke ich, sollte ich genau das tun. Dazu habe ich dann wieder Fantasien, die auf keine Kuhhaut gehen. Ich könnte zu ihm gehen, unter Tränen, ihm zeigen wie schwer mir das alles fällt, ihn um eine Umarmung bitten (was er nur schwer ablehnen könnte) und ich würde mich in seinen Haaren vergraben, seinem Duft atmen, seine Wärme spüren, ihm seine Fähigkeit nehmen noch eine Grenze zu ziehen. Und all diese puren Erfahrungen könnten in einen leidenschaftlichen Kuss übergehen. 

Also habe ich mich nicht bei ihm gemeldet, packte meine Sachen und verließ die Klinik. Beim Rausgehen kam er mir entgegen, etwas taxierend, dann vorsichtig und bald darauf zuckersüß lächelnd, mir ein schönes Wochenende wünschend und mir die Tür aufhaltend. Das kann er wirklich gut. Ist das nun mehr eine aufgrund seines Harmoniebedürfnisses antrainierte Fassade oder ein ehrlich gemeintes "Alles wieder okay?" Ich danke, wem auch immer, für diese Begegnung, die mich jetzt am Wochenende etwas ruhiger sein lässt. Hab dann zu Hause alles noch mal aufgeschrieben und dann ging es schon. Habe mir vorgenommen, dieses Wochenende nicht an ihn zu denken und bin bereits gescheitert. Dann habe ich gestern ab 20 Uhr durchgeschlafen, weil ich völlig erschöpft war. Solche Gefühlsüberwallungen strengen einfach mordsmäßig an! Vorhin war ich laufen und jetzt fühle ich mich ganz gut.

Dass mit der Spannung und der Auseinandersetzung gefällt mir. Vielleicht ist das wirklich so. Gut, dass ich nicht angerufen habe. So kann ich mich erst mal sortieren überlegen, was ich weiter mache, kann die Mitleidstour überdenken. Sollte ich wirklich heulend zu ihm gehen und mir eine Umarmung abholen? Ist es das, womit ich ihn kriegen könnte? Sind solche depressiven Gefühle nicht das letzte, was er gebrauchen kann? Oder sind sie es, die ihn weich werden lassen? Aktuell testen wir auf der fachlichen Ebene unsere Standfestigkeit. Das ist etwas, was ich keinesfalls suche und brauche aber es ist aktuell eine Möglichkeit mit ihm in Kontakt zu kommen. Ich sollte mich einfach nur noch um mich selbst kümmern und nicht darum, was Flo will. Aber das ist es ja gerade, wenn man verliebt ist. Ich sorge mich um ihn. Er macht äußerlich einen ganz stabilen Eindruck. Ich wohl auch. Das hat ja nichts mit den inneren Prozessen zu tun. Wenn mein relativ unüberlegtes Geständnis im November Unruhe in sein Leben gebracht hat, dann wird mein ganz konkreter Vorschlag nach einer Affäre sein Leben erheblich ins Wanken gebracht haben. Und damit kämpfen wir nun beide.


„Shit happens: 
Mal bist du die Taube, mal bist du das Denkmal.“
Eckart von Hirschhausen


Die Frage ist, wer ist Taube und wer ist Denkmal. Mal so, mal so. Wir reagieren aufeinander, so viel ist sicher. Es lässt ihn nicht kalt. Und das ist mehr als nichts.

Eva

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