Liebe Mathilda,
danke für die Komplimente!! Bin überrascht und beeindruckt, dass sich mein Schreiben verändert. Ich merke das ja nicht. Man könnte fast sagen: Es schreibt mich. Und so wie ich mich verändere, verändert sich wohl auch mein Schreiben. Bei dem ganzen im Hier-und-Jetzt-Leben habe ich wohl noch nicht erwähnt, dass heute mein letzter Arbeitstag vor einer kleinen, feinen Woche Urlaub war.
An diesem letzten Tag gab es nochmal aufwühlende Begegnungen mit und ohne (dafür über) Dr. Flo. Als ich auf die Station komme, sitzt Flo bereits brav in seinem Sprechzimmer. Die Tür hat er einladend offen gelassen, aber ich kann widerstehen und geselle mich stattdessen zu den versammelten Schwestern, die freitags stets durch eine lautstarke Lockerheit gekennzeichnet sind. Der "Hühnerhaufen" hat sich im Aufenthaltsraum versammelt und gackert vor sich hin. Thema heute: Wie messe ich den Puls? Schwester Andrea macht es vor. In dem Gelächter tauchen bald eindeutige Fantasien auf, wer hier den Puls fühlen soll. Wohlgemerkt erst bei den Hühnern und dann bei mir. Der nicht anwesende Dr. Flo wird als Pulsmesser und allgemeiner Retter angehimmelt. Die Stationsassistentin meint fachmännisch, zum Pulsmessen komme es auf den Rhythmus an. Mir rutscht heraus: "Welcher Rhythmus? Der vom Puls oder der von Dr. Mollis?" Noch mehr Gelächter und mein persönliches Verständnis für Flo, dass er diesem Gegacker nicht beiwohnen möchte. Ausschließlich Frauen auf einem Haufen können eine ungebremste Kraft oder auch das Verderben sein.
Im Laufe des Tages ereilte mich natürlich die übliche Katastrophe vor dem Urlaub. Diesmal war es eine wahnhaft gewordene Klientiin, die bei körperlicher Gesundheit und guter Prognose davon überzeugt war, dass sie in den nächsten Stunden bis Tagen sterben werde. Ihr Mann bemühte sich händeringend, sie zu uns zu bringen, und ich informierte Flo darüber. Auch mit der Frage, ob er sie in eine psychiatrische Klinik einweisen kann. Ich ging zu ihm ins Sprechzimmer als gerade kein Klient bei ihm war. Er diktierte einen Arztbrief in sein Diktiergerät. Ich war noch nie in den Genuß gekommen, ihn beim Diktieren zu erleben, und stellte fest, dass er sogar alle Leerzeilen und Absätze mit ansagt. Das ist wahrscheinlich so üblich und total normal, und dennoch finde ich es irgendwie ... sexy wie er das sagt. Halte mich für schräg, aber wahrscheinlich könnte er auch das Telefonbuch vorlesen und ich würde es schön finden. Eine Minute oder so hörte ich mir sein Diktat an, dann stoppte er, versprach sich und sagte leise "Scheiße" (wie sympathisch! habe noch nie ein Schimpfwort aus seinem Mund gehört). Neugierig fragte er "Du wolltest was von mir?" Will ich doch immer! Ich schilderte ihm den Fall und er war sehr sachlich und sortierte ein bisschen die Möglichkeiten, die es aus ärztlicher Sicht gab. Ich war mir danach noch immer nicht einig, was ich mit der Klientin genau anfangen würde, aber es tat gut, es ihm erzählt zu haben. Ich war bereits am Aufstehen, da fragte er "Das bereitet Dir ganz schön Sorge, oder?" Mich erwischte diese Frage kalt. Hätte nicht damit gerechnet, dass er persönlich wird. Einen kurzen Moment spürte ich Tränen in mir aufsteigen (Was war das und wo kam es her?) und in meinem Gesicht ließ sich das sicherlich ablesen. Es überraschte mich selbst, dass das in dieser Situation passierte. Es ging dabei wohl nicht um die Klientin. Klar machte ich mir Sorgen um sie, doch noch mehr berührte mich, dass er das wahrnahm und sich offensichtlich für mich interessierte. Damit konnte ich nicht umgehen, versuchte mich in kürzester Zeit in den Griff zu bekommen, was mir gelang, und bestätige ihm, dass "es" mir Sorge bereitet. Im Herausgehen bat er mich, ihm später davon zu erzählen wie es mit der Klientin gelaufen ist. Puhh, das war schon eine Situation mit Herzklopfen.
Um die Mittagszeit hatte ich ein paar Antipasti und frisches Brot im Aufenthaltsraum drapiert, um kuliniarisch mitzuteilen, dass man hier in der nächsten Woche auf mich verzichten müsse. Ich hatte mit Barbara schön den Tisch gedeckt. Hungrig trommelten wir die Leute zusammen. Doch wo war Flo? Ich entschied spontan ihn anzurufen, was ich gefühlt zuletzt vor ein paar Monaten getan hatte. Ich war also mutig und locker, überlegte nur ganz kurz, was ich ihm sagen würde. Ich hörte auf den Klingelton und dann:
F: "Mollis?"
E: "Hallo Flo, Eva hier."
F: "Hallo Eva."
E: "Mmhh ... hier wartet eine leckere Urlaubslage darauf gegessen zu werden. Willst Du nicht auch dazu kommen?"
F: "Ja, ich muss noch ... Mhh .. Ich komme."
E: "Ok, bis gleich."
Was war das? Kurze Überlegung bei ihm, ob nicht irgendetwas wichtiger ist als meine Urlaubslage und dann der Entschluss, dass es jetzt nichts Wichtigeres gibt. War eigentlich ganz einfach, sich mit ihm zu verabreden. Flo kam mit seinem Feeling für den entscheidend verzögerten Zeitpunkt erst in den Aufenthaltsraum als bereits alles gerammelt voll war. Er stand dann ein bisschen verloren am Rand, weil kein Platz mehr frei war und schlürfte einen Kaffee im Stehen. Das war ja nun nicht der Plan, aber wer zu spät kommt ... Ich versuchte den stehenden Flo auszublenden, da er ja wohl fähig ist, sich einen Stuhl zu besorgen. Barbara fragte mich später zu dieser Situation, ob Florian angespannter sei als sonst. Keine Ahnung, bin da nicht objektiv und Barbara scheint eine Menge zu merken. Irgendwann erhoben sich einige Leute, so dass freie Plätze entstanden und ... Flo setzte sich ohne Worte neben mich! Das nächste Herzklopfen war mir damit sicher. Mit seiner Nähe stellte sich in Millisekunden das Klumpengefühl in meinem Magen - auch Schmetterlinge genannt - wieder ein. Er fragte mich, ob die Klientin inzwischen angekommen sei. Ich bestätigte ihm das und erzählte wie ich mit der Klientin und ihrem Mann gesprochen hatte und dass ich den Mann bestärkt hatte, seine Frau selbst in die psychiatrische Klinik zu bringen, damit nicht so ein krasses Vorgehen wie eine Einweisung gegen ihren Willen nötig sein würde. Ich wirkte wohl viel beruhigter als heute vormittag und Flo demzufolge auch. Dann verwickelte ich ihn in ein anderes Gesprächsthema. Es ging um den Klienten von vorgestern, der 50 Jahre dort lebte, wo er nie sein wollte. Ich fand heraus, dass sein Lieblingssohn Pilot sei und er durch ihn in der ganzen Welt herumgekommen sei. Demzufolge konnte er seinem ungeliebten Wohnort wohl immer mal entfliehen. Wir brauchen also alle unsere kleinen Urlaube, Sonderflüge, Geheimnisse ... Aktuell fliege der Sohn aber nur noch europaweit, was jemanden, der in der ganzen Welt herumgekommen sei, nicht mehr sonderlich reize. Flo musste lachen wie ich das erzählte. Und das freute mich. Ich hatte wie immer das Gefühl, dass er den tieferen Sinn meiner Worte verstand. Aber was sind Worte gegen nonverbale Signale? Er gab beim Essen wohlige Laute von sich und schwärmte von meinen Antipasti. Diesmal war ich in der Fütterposition. Es hatte schon wieder etwas Sinnliches wie wir wortlos und nebeneinander einfach nur genossen. Wenn das die Vorspeise ist, wie ist dann erst der Hauptgang? :-) Und kann da überhaupt noch etwas Sinnlicheres kommen oder ist damit alles schon verpufft? Wenn bloß diese Neugier nicht wäre. Nach allem, was ich dir schon geschrieben habe, muss mir doch klar sein, dass Herr Mollis die Hauptspeise wohl auslässt oder zumindest nicht mit mir vertilgt. Zu Kuchen und Vorspeisen mag er sich wohl hinreißen lassen, aber gegessen wird offensichtlich zu Hause.
"Ich kann nicht über heiße Kohlen laufen.
Ich kann nicht über Wasser gehen.
Doch ich kann fühlen, wenn Du da bist.
Ohne hinzusehen.
Sag jetzt keinen Ton, denn ich fühle Dich schon.
Du bist nur einen Herzschlag entfernt
Auch wenn ich Dich aus den Augen verlier.
Bist nur einen Herzschlag entfernt.
Warum bin ich nicht immer auch bei Dir?
Ich kann nicht aufhören zu staunen,
Weil Du mich immer so bewegst.
Ich kann nicht aufhören zu glauben,
Dass Du grad neben mir stehst."
Nur einen Herzschlag - Tim Bendzko
(noch 7 Tage bis zur Waldbühne)
Schöne Urlaubsgrüße,
Eva
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