Ach Süße,
ich vermisse dich hier ganz schön. Aber ich gönne, gönne, gönne dir auch total Deinen Urlaub. Schöne Bilder, die du immer "whats.appst". Hier ist ja eher Winter.
Ich vervollständige meine Positiv-Negativ-Liste über Florian. Ich frage mich, was ich investiere, um ihm zu gefallen und was er jemals investiert hat, um mir zu gefallen. Wahrscheinlich gar nichts außer seiner von mir völlig unabhängigen Eitelkeit. Ich sehe das unumstößliche Ungleichgewicht zwischen uns. Ich führe am Abschluss des Arbeitstages ein Rating durch, um herauszufinden, ob ich durch ihn mehr schöne oder mehr schlechte Tage habe. Das alles, um ihn mir irgendwie aus dem Kopf zu schlagen. Gefühl hat nicht funktioniert, jetzt muss der Verstand herhalten. Und dann begegnen mir Sprüche wie dieser und bringen mich erneut ins Wanken:
"In zwanzig Jahren wirst du mehr enttäuscht sein über die Dinge, die du nicht getan hast, als über die Dinge, die du getan hast.
Also löse die Knoten, laufe aus dem sicheren Hafen aus.
Erfasse die Passatwinde mit deinen Segeln.
Erforsche.
Träume."
Mark Twain
Mein aktueller Passatwind: Flo, der an einem Türrahmen lehnt. D.h., nein, eigentlich war ich zuerst da. Ich bin immer zuerst da. Ich bin zuerst auf der Arbeit (sowohl morgens als auch von der Aufnahme meiner Tätigkeit in dieser Klinik). Ein bisschen wie "Hase und Igel": "Ich bin schon da". Jedenfalls stehe ich heute morgen im Stützpunkt auf der Station und bin mit Flo in ein Gespräch vertieft. Eine Patientin ist gestorben. Er ist betroffen und fragt, ob ich sie bei diesem stationären Aufenthalt noch mal gesehen habe. Ich verneine das und er auch. Er philosophiert darüber, dass "wir" viel zu lange Chemotherapie machen. Er präferierte eine spezielle neue Methode bei Lebertumoren, zu der die Patientin nicht mehr kam. Das ist nicht gerade das romantischste Thema, aber wenn es um Leben und Tod geht, haben er und ich wohl noch immer unsere bewegendsten Momente. Ins Gespräch vertieft lehne ich mich an die Wand neben dem Türrahmen, in dem er steht. So mit dem Kopf an die Wand geneigt. Wir haben herrlichen Blickkontakt. Er lehnt sich ebenfalls mit Körper und Kopf in den Türrahmen, so dass ich beim Sprechen seinen Atem spüren kann. Es sind Leute drumherum und trotzdem sind wir ganz unter uns. Wir lehnen also im rechten Winkel am Türrahmen, jeder von seiner Seite. Es ist schön und ich beschließe hier nicht wegzugehen. Er bleibt auch und so ist es wohl für uns beide angenehm. Ich stimme seiner Aussage über Chemotherapie zu und bringe ein Beispiel aus der gestrigen Fallkonferenz, zu der er "unerhörterweise" nicht anwesend war. Bei einem Patienten mit aussichtslosen Befunden wurde nach einer noch möglichen Chemotherapie gesucht. Ich halte das kaum aus und wage die Frage nach der Lebenserwartung zu stellen. Betretenes Schweigen bis sich eine Assistenzärztin opfert "3 Monate?". Und - Oh Wunder - die Diskussion wendet sich, so dass wir beschließen, dem Patienten keine weitere Chemotherapie zuzumuten. Man hat auf mich gehört. Flo ist total meiner Meinung. Zum Kotzen harmonisch zwischen uns. Ich merke, dass ich über den ärztlichen Aktionismus in der Fallkonferenz richtig ärgerlich werde. Er meint, dass die Patienten viel mehr zu eigenen Entscheidungen befähigt sein müssten. Ich erwidere darauf etwas ungehalten "Ja, nur werden die Patienten das tun, was "ihr" (und damit sind ungerechterweise "die" Ärzte gemeint) ihnen vorschlagt." Er kriegt es diesmal stellvertretend ab. Ich glaube, er kann das ertragen. Es wird in ihm arbeiten. Da bin ich mir ziemlich sicher. In unserem Gespräch kommen wir weiter auf die ethische Fallbesprechung, die ich letzte Woche geleitet habe. Ich weiß nicht mehr, ob ich davon geschrieben hatte. Ich hatte Flo kurz davon erzählt, dass es um eine 83jährige Patientin ginge, keine Aussicht auf Besserung und seit 1/2 Jahr im Krankenhaus, beatmet und mit gültiger Patientenverfügung, dass sie das so nicht gewollt hätte. Seine Meinung hilft mir, den Fokus unbedingt auf den Patientenwillen zu setzen. Und so läuft auch die Fallbesprechung. Alle lebenserhaltenden Maßnahmen werden beendet und die Frau kann 1 Tag später endlich sterben. Als ich Flo das erzählt habe, steht plötzlich unser Chef hinter mir, was die vertraute Situation zwischen uns beendet. Wir sind beide wie hochgerüttelt, aufgetaucht aus einem intensiven Kontakt. Ein bisschen wie "erwischt" werden.
Naja, soviel zu den zarten Winden, die hier wehen.
Bis bald,
Eva
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