Seelische Gesundheit am Arbeitsplatz

Hallo, liebe Mathilda,

hier kommt ein Gruß von mir. Ich hoffe es geht Dir gut und Du verbringst mittlerweile mehr Zeit zu Hause als in Baumärkten. Schon das Fitneßstudio Deines Herzens gefunden? Und immer wieder Flo: Heute gemeinsames Mittagessen. Er traf diesmal die Entscheidung, dass wir zusammen essen, indem er sich an den "Therapeutentisch" setzte. Irgendwie fand ich bei eigentlich guter Stimmung schlecht Kontakt zu ihm. Und ein paar Stunden später treffe ich ihn ALLEIN in unserer Küche wie er sich eine Tasse Kaffee gönnt. Und ich denke "Jippiee, prima Gelegenheit", will mich zu ihm setzen und ... er steht auf!

Muss ich das auf mich beziehen oder war er einfach nur fertig mit dem Kaffeetrinken? Mir kommt es so vor als wolle er vermeiden, dass ich 1. mit ihm allein bin und 2. mit ihm über Persönliches spreche. Ich fand das echt scheiße. Der weiß gar nicht, was er mit solchen für ihn vielleicht beiläufigen Gesten bei mir auslöst. Wie schon so oft kurz vor dem Wochenende, wo man sowas wirklich nicht haben will. Ist der Weg doch schon vorgezeichnet, so dass ich mir den ganzen Samstag und den ganzen Sonntag Gedanken darüber machen werde, warum er vom Tisch aufgestanden ist. Nach dieser Aktion entwickelte ich gedanklich die neue und schon deswegen gute, trotzige Haltung: "Er kann mich mal, wenn er nicht mal meine Nähe ertragen kann". Ein gutes, weil neues Gefühl.Ich ärgerte mich in Gedanken weiter als ich mir automatisch und nun allein in der Küche eine Tasse Kaffee eingoß. Ich verweilte für die Dauer der Kaffeetasse in diesem Raum. Einerseits um zu demonstrieren, dass ich das auch kann: alleine Kaffee genießen. Andererseits in der absurden Hoffnung, er würde zurückkommen. 

Nicht mit dem PC, sondern den Menscen kommunizieren...

Naja, eine Kaffeetasse später ging ich ärgerlich und traurig zugleich wieder in mein Büro und setzte mich an meinen Rechner um zu dokumentieren. Nachdem der Bildschirmschoner verschwunden war, sah ich sofort seinen Namen in der mailingliste. Verstehe einer diesen Mann: keinen Kontakt und doch wieder Kontakt? Während ich alleine Kaffee getrunken habe, schrieb er mir offensichtlich eine mail. Er flüchtet vor mir und schreibt mir stattdessen eine mail? Was ging bloß in seinem Kopf vor als er so abrupt aufgestanden ist?

1. "Ah, das ist Eva...Ich wollte ihr doch eine mail schreiben." (erklärt jedoch nicht, warum er lieber schreibt als spricht; zumal er sich offensichtlich mündlich besser als schriftlich ausdrücken kann)

2. "Ich muss hier weg sonst bin ich mit Eva allein. Ich will hier gar nicht weg. Naja, schreib ich ihr halt ne mail."

3. "Ups, ich wollte ja noch mein mailpostfach abarbeiten."

4. Für am wahrscheinlichesten halte ich folgendes: Flo flüchtet vor mir aus der Küche. Als er er kurz darauf in seinem Büro mails abarbeitet, empfindet er in seinem unendlichen Harmoniebedürfnis sein Verhalten als zu ruppig und sucht über den ungefährlicheren mailweg wieder Kontakt zu mir.

...sonst ist man bald im Eimer.

Das überlege ich mir tatsächlich bevor ich die mail öffne. Ich will es schließlich auskosten, denn ich bekomme nicht so oft von ihm Initialmails. Ich bin gespannt als ich sie öffne. Kann ja bei seiner zwischenmenschlichen Risikobereitschaft lediglich einen Nebenschauplatz betreffen. Die mail hat einen Anhang: Ein weitergeleiteter Artikel über die Stärkung seelischer Gesundheit am Arbeitsplatz. Dazu schreibt Herr Dr. Mollis:

"Von der psyche und der Arbeit hatten wir es doch gestern erst.

Hierzu bekam ich gerade einen Artikel von Dr. Urban.

Vielleicht interessiert es Dich auch. 
Viele Grüße"

Hää? Flüchtet praktisch vor psychohygienischen Pausen mit mir und schickt mir einen Artikel über seelische Gesundheit am Arbeitsplatz? Meint er mich? Meint er sich? Was will er mir damit sagen? Ja, vielleicht hatten wir das Thema am Rande erwähnt. Ich kann ihm sagen, was seelisch gesundes Verhalten am Arbeitsplatz ist. Ich bin sozusagen Expertin dafür. Zu seinen Gefühlen stehen und nicht alles bei sich behalten, das ist seelisch gesund. Pausen machen, mit Kollegen, die man mag, auch über berufsfremde Dinge sprechen. Ich will nicht behaupten, dass es für die seelische Gesundheit notwendig ist, seine Kollegen zu lieben (obwohl das ja als Nebenprodukt öfter mal passiert), aber ein gutes Klima würde ich noch vor den Inhalten einer Tätigkeit als notwendige Bedingung für seelische Gesundheit sehen. Naja, nachdem ich mich etwas über Flo´s Reaktionsweise aufgeregt und wieder abgeregt hatte - immerhin sucht er ja Kontakt zu mir, nur nicht den, den ich mir wünsche - antwortete ich ihm:

"Lieber Florian,

danke für den Artikel, der mich natürlich interessiert.

Seelische Gesundheit am Arbeitsplatz hat meiner Meinung viel damit zu tun, dass man die Arbeit, zu der man sich berufen fühlt, zusammen mit den "richtigen" Menschen tut. Es macht viel aus, wenn man sich am richtigen Platz fühlt.

Viele Grüße von Eva"

So, und mit dieser Antwort kann er sich zur Abwechslung jetzt das Wochenende herumschlagen. Mal sehen ob er darauf noch etwas zu erwidern hat. Wenn ich das mal so von der Metaebene betrachte, gefällt mir nicht, dass ich so abhängig von seinen Reaktionen bin. Bewege ich mich ein Stück auf ihn zu, bewegt er sich weg und umgekehrt. Es läuft darauf hinaus, dass er mir meinen sehnlichsten Wunsch nicht erfüllen wird und mich aber trotzdem in seiner Nähe haben will. Ob ich das mitmache, liegt nun bei mir.

Das ist doch schon eine tolle Erkenntnis für einen Freitag.

Viele liebe Grüße von Eva.