Dienstag, 2. April 2013

Mehr Risiko oder Wie züchte ich ein Blatt an eine tote Pflanze?


Liebe Mathilda,

mein aus den "5 Geheimnissen" geklautes neues Wochenmotto lautet: "Mehr Risiken eingehen". Und das meine ich natürlich nicht für den Straßenverkehr :-), sondern im Zwischenmenschlichen. Das heisst in bezug auf Flo: mehr in Kontakt treten und das auf einer persönlichen Ebene. 



Heute, am ersten Arbeitstag der Woche, war ich schon mal sehr mutig, denn ich will ja mein neues Motto ausprobieren. Ich gehe mit offenen Augen durch die Welt, um nach Gelegenheiten, mutig zu sein, Ausschau zu halten. 
Stufe 1: Flo begegnet mir auf dem Klinikflur und ich begrüße ihn mit einer offenen und entwaffnend herzlichen Geste. Leider ist er noch nicht auf mein neues Motto vorbereitet (Wird er das jemals sein?) und so zeigt er sich erst mal zurückhaltend und taut während einer fachlichen Angelegenheit etwas auf. 
Stufe 2: Drei Stunden später könnte man meinen, das Motto habe auch ihn ergriffen, denn er macht den unglaublichen Schritt, an meine Zimmertür zu klopfen. Er sucht – das ist sicherlich nicht überinterpretiert – (fachlichen) Kontakt zu mir. Ich bin zu dem Zeitpunkt im Klientengespräch, so dass er sich sofort wieder diskret zurückzieht. Nach dem Klientengespräch, dass ich wie auf Kohlen sitzend zu Ende führe, denke ich kurzentschlossen und risikofreudig: Wenn er mich in meinem Zimmer aufsuchen kann, kann ich das schon lange! Und ich mache den noch viel unglaublicheren Schritt, zu ihm zu gehen. Ich weiß, dass er in seinem Büro ist. Es fühlt sich total gut an, diese Idee sofort umzusetzen. Da kann ich mir vorher nicht so viele Gedanken machen und mich selber überreden, es besser sein zu lassen. Ich klopfe an seinem Büro. Die vertraute, samtige Stimme fragt "Jaa?" und ich trete sein. Flo ist total überrascht. Naja, er ist nicht umgefallen oder so, aber er reißt schon ganz erheblich die Augen auf als er mich sieht, was ein sicheres Zeichen für Angst ist. Was denkt er? Dass ich über ihn herfalle? Ich finde mich total mutig, ihn in seiner Behausung aufzusuchen. Ich frage erwartungsvoll was er mir gerade hatte sagen wollen. Das gibt ihm etwas Zeit sich zu orten und er fängt (erleichtert) an zu erzählen. Ich bin sehr interessiert, halte sehr risikobehafteten Blickkontakt und bedeute ihm mehr zu erzählen. Als multitaskinggeeignete Frau habe ich zudem noch freie Kapazität, die Umgebung auf mich wirken zu lassen. Ist das sein Büro? Dasselbe Zimmer, in dem ich zuletzt Anfang Februar war? Jetzt bin ich überrascht. Er hat aufgeräumt, sein Leben aufgeräumt. Im Vergleich zum Februar als das Chaos herrschte. Jetzt ist der Schreibtisch frei, das Zimmer fast gemütlich, wohnlich. Mit einer Espressomaschine (Vielleicht hätte ich erwähnen sollen, dass ich gerne Espresso trinke :-) 

Als das Fachliche geklärt ist, frage ich risikolustig wie sein Ostern gewesen ist. Risikolustig, weil man ja nie weiß, was man so erfährt und wo eine persönliche Unterhaltung so hinführt. Das wird ihm wahrscheinlich auch bewusst sein, so dass er nach seinem Osterbericht noch etwas zögert bis er mich auch fragt wie meines gewesen ist. Es ist smalltalk! Mutiger ist heute keiner von uns beiden. Ich wollte da auch keine großen Gefühle auf den Tisch bringen, sondern einfach Kontakt zu ihm haben und wieder mehr persönlich reden. Aber immerhin sind wir allein, fernab von jeglichen Augen und Ohren, zum ersten Mal seit Wochen! Während ich ihm ein kurzes Update meines Osterns gebe, bleibt mein Blick an einem Bild auf seinem Schreibtisch hängen. Ein Bild von ihm und seiner Frau. Als mir das bewusst wird, vermeide ich es, weiter dort hinzuschauen. Mir haben sich keine Gesichtszüge eingebrannt, aber ich weiß, dass es eine braunhaarige, natürlich attraktive Frau ist. Was mir Sorgen macht und was ich unbedingt vermeiden möchte, ist, dass sie ein Gesicht bekommt, denn natürlich ist sie eine liebende Ehefrau und Mutter. Ich ziehe es lieber vor sie als Phantom zu betrachten, ansonsten wird mir die Niederträchtigkeit meines Handelns zu bewusst. Okay, wo könnte ich stattdessen hinsehen als auf dieses demonstrative „Schau-wie-glücklich-wir-sind“-Bild? Was ist das für ein Stock dort hinten in der Ecke? Das ist nicht wirklich der klägliche Rest seiner geliebten Strahlenaralie? Doch, das muss sie sein! Seine einzige (und "einstige") Pflanze trägt kein einziges Blatt mehr. Er hatte sie mir mal zur Pflege gebracht als er im Urlaub war (siehe post "Unerreichbar oder nicht?" vom September 2012). Ich halte in meinem Bericht über Ostern inne und frage scherzhaft:

„Sag mal, hast Du noch immer Hoffnung, diese Pflanze zu retten?“

„Nein, ich kann mich nur nicht entscheiden, sie zu entsorgen oder …“

Und ich beendete den Satz

„ ... bei ihr Sterbebegleitung zu machen?“ 

Na bitte: Er muss lachen. Er lächelte auch vorher schon leicht, aber meine Worte bringen ihn zum Lachen. An dieser Stelle ist es schon sehr flirty. Und meinem neuen „Risikoverhalten“ kann seine Mimik einfach nicht standhalten. Und dennoch ist es ernst. Ist nicht die Strahlenaralie eine Metapher für unsere Verbindung? Die Entsorgung fällt schwer, weil man sich von dem liebgewonnenen Stück nicht trennen kann? Es war ein großer Baum, der schnell viele, große Blätter produzierte. Unübersehbar, so dass keiner daran voreikommt. Flo richtet sein neues Leben ein und doch hängt er an seinem alten. Der Baum ist dabei, aber er überlebt es nicht. Beides geht nicht. Für Flo zumindest. In dieser neuen Umgebung kann die geliebte Pflanze nicht gedeihen. Er hängt aus irgendwelchen sentimentalen Gründen an einer toten Pflanze. Ob es nun um die Strahlenaralie geht oder um mich, meine Anwesenheit ist ihm nicht unangenehm. Sonst hätte er mich wohl schon „hinausgebeten“ (Dr. Mollis würde nie jemanden „hinauswerfen“ oder es hat noch keiner geschafft, ihn dazu zu bringen). Er weiß, dass er sich von mir fernhalten sollte, weil ich ihn sonst zu sehr mit seinen „verbotenen“ Bedürfnissen konfrontiere. Vielleicht empfindet er es als gefährlich, wenn er mich zu nah an sich heran lässt. Ich kenne das alles. Auch ich habe mein Zimmer aufgeräumt und mir die Familienbilder hingestellt, um dem Unausweichlichen entgegenzuwirken. Zwecklos, aber eben eine Entwicklungsstufe. Manchmal habe ich den Eindruck, dass ich ihn in Sicherheit wiegen möchte, dass ich gar nicht so gefährlich bin, nur um dann im entscheidenden Moment da zu sein und an sein Herz zu appellieren. Vielleicht wächst dann doch wieder ein Blatt an einer toten Pflanze? Naja, ein bisschen Flirten wird ihn schon nicht überfordern. Ich merke, dass das für mich immer noch ein Problem ist: Wie konnte ich den armen Mann nur in diese Situation bringen? 

Als ich beschließe zu gehen und dies auch umsetze, dankt er mir, dass ich gekommen bin und sagt, dass es ihm leid tue in mein Gespräch reingeplatzt zu sein (mir nicht).  Als ich die Tür zu seinem Büro von außen schließe, bin ich schön positiv aufgeladen, dass ich mich getraut habe, zu ihm zu gehen. Mehr Risiko wird belohnt. Soviel für jetzt, mal schauen welche Risiken sich noch ergeben.


"I’d rather burn with desire deep in my soul,  
And love like a fire that’s out of control, 
And laugh and dance and fall and chance and kiss 
I’d rather live my whole life with a sense of abandon,  
Squeeze every drop out, no matter what happens.  
And not wonder what I've missed 
I’d rather risk."
Paul Brandt - Risk


Risikofreudige Grüße von Eva

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