Liebe
Mathilda,
mein
aus den "5 Geheimnissen" geklautes neues Wochenmotto lautet:
"Mehr Risiken eingehen". Und das meine ich natürlich nicht für
den Straßenverkehr :-), sondern im Zwischenmenschlichen. Das heisst in
bezug auf Flo: mehr in Kontakt treten und das auf einer persönlichen Ebene.
Heute,
am ersten Arbeitstag der Woche, war ich schon mal sehr mutig, denn ich will ja
mein neues Motto ausprobieren. Ich gehe mit offenen Augen durch die Welt, um
nach Gelegenheiten, mutig zu sein, Ausschau zu halten.
Stufe 1: Flo begegnet
mir auf dem Klinikflur und ich begrüße ihn mit einer offenen und entwaffnend
herzlichen Geste. Leider ist er noch nicht auf mein neues Motto vorbereitet (Wird
er das jemals sein?) und so zeigt er sich erst mal zurückhaltend und taut während
einer fachlichen Angelegenheit etwas auf.
Stufe 2: Drei Stunden später könnte
man meinen, das Motto habe auch ihn ergriffen, denn er macht den unglaublichen
Schritt, an meine Zimmertür zu klopfen. Er sucht – das ist sicherlich nicht
überinterpretiert – (fachlichen) Kontakt zu mir. Ich bin zu dem Zeitpunkt im
Klientengespräch, so dass er sich sofort wieder diskret zurückzieht. Nach dem
Klientengespräch, dass ich wie auf Kohlen sitzend zu Ende führe, denke ich
kurzentschlossen und risikofreudig: Wenn er mich in meinem Zimmer
aufsuchen kann, kann ich das schon lange! Und ich mache den noch viel
unglaublicheren Schritt, zu ihm zu gehen. Ich weiß, dass er in seinem Büro ist.
Es fühlt sich total gut an, diese Idee sofort umzusetzen. Da kann ich mir vorher
nicht so viele Gedanken machen und mich selber überreden, es besser sein
zu lassen. Ich klopfe an seinem Büro. Die vertraute, samtige Stimme fragt
"Jaa?" und ich trete sein. Flo ist total überrascht. Naja, er ist
nicht umgefallen oder so, aber er reißt schon ganz erheblich die Augen auf als
er mich sieht, was ein sicheres Zeichen für Angst ist. Was denkt er? Dass ich über
ihn herfalle? Ich finde mich total mutig, ihn in seiner Behausung
aufzusuchen. Ich frage erwartungsvoll was er mir gerade hatte sagen wollen. Das gibt ihm etwas Zeit sich zu orten und
er fängt (erleichtert) an zu erzählen. Ich bin sehr interessiert, halte sehr risikobehafteten Blickkontakt und bedeute
ihm mehr zu erzählen. Als
multitaskinggeeignete Frau habe ich zudem noch freie Kapazität, die Umgebung auf mich
wirken zu lassen. Ist das sein Büro? Dasselbe Zimmer, in dem ich zuletzt Anfang
Februar war? Jetzt bin ich überrascht. Er hat aufgeräumt, sein Leben aufgeräumt. Im
Vergleich zum Februar als das Chaos herrschte. Jetzt ist der Schreibtisch frei,
das Zimmer fast gemütlich, wohnlich. Mit einer Espressomaschine (Vielleicht
hätte ich erwähnen sollen, dass ich gerne Espresso trinke :-)
Als
das Fachliche geklärt ist, frage ich risikolustig wie sein Ostern gewesen ist.
Risikolustig, weil man ja nie weiß, was man so erfährt und wo eine persönliche Unterhaltung so hinführt. Das wird ihm wahrscheinlich auch bewusst sein, so dass er nach seinem Osterbericht noch etwas zögert bis er mich auch fragt wie meines gewesen ist.
Es ist smalltalk! Mutiger ist heute keiner von uns beiden. Ich wollte da auch keine großen Gefühle auf den
Tisch bringen, sondern einfach Kontakt zu ihm haben und wieder mehr persönlich reden. Aber immerhin sind wir allein, fernab von jeglichen Augen und Ohren, zum ersten Mal seit Wochen! Während ich ihm ein kurzes Update meines Osterns gebe,
bleibt mein Blick an einem Bild auf seinem Schreibtisch hängen. Ein Bild von
ihm und seiner Frau. Als mir das bewusst wird, vermeide ich es, weiter dort
hinzuschauen. Mir haben sich keine Gesichtszüge eingebrannt, aber ich weiß,
dass es eine braunhaarige, natürlich attraktive Frau ist. Was mir Sorgen
macht und was ich unbedingt vermeiden möchte, ist, dass sie ein Gesicht
bekommt, denn natürlich ist sie eine liebende Ehefrau und Mutter. Ich ziehe es
lieber vor sie als Phantom zu betrachten, ansonsten wird mir die Niederträchtigkeit
meines Handelns zu bewusst. Okay, wo könnte ich stattdessen hinsehen als auf
dieses demonstrative „Schau-wie-glücklich-wir-sind“-Bild? Was ist das für ein
Stock dort hinten in der Ecke? Das ist nicht wirklich der klägliche Rest seiner
geliebten Strahlenaralie? Doch, das muss sie sein! Seine einzige (und
"einstige") Pflanze trägt kein einziges Blatt mehr. Er hatte sie
mir mal zur Pflege gebracht als er im Urlaub war (siehe post "Unerreichbar
oder nicht?" vom September 2012). Ich halte in meinem Bericht über Ostern
inne und frage scherzhaft:
„Sag
mal, hast Du noch immer Hoffnung, diese Pflanze zu retten?“
„Nein,
ich kann mich nur nicht entscheiden, sie zu entsorgen oder …“
Und
ich beendete den Satz
„ ...
bei ihr Sterbebegleitung zu machen?“
Na
bitte: Er muss lachen. Er lächelte auch vorher schon leicht, aber meine Worte
bringen ihn zum Lachen. An dieser Stelle ist es schon sehr flirty. Und meinem
neuen „Risikoverhalten“ kann seine Mimik einfach nicht standhalten. Und dennoch ist es
ernst. Ist nicht die Strahlenaralie eine Metapher für unsere Verbindung? Die
Entsorgung fällt schwer, weil man sich von dem liebgewonnenen Stück nicht trennen kann? Es war ein
großer Baum, der schnell viele, große Blätter produzierte. Unübersehbar, so
dass keiner daran voreikommt. Flo richtet sein
neues Leben ein und doch hängt er an seinem alten. Der Baum ist dabei, aber er überlebt es nicht. Beides geht nicht. Für Flo
zumindest. In dieser neuen Umgebung kann die geliebte Pflanze nicht gedeihen. Er
hängt aus irgendwelchen sentimentalen Gründen an einer toten Pflanze. Ob es nun
um die Strahlenaralie geht oder um mich, meine Anwesenheit ist ihm nicht
unangenehm. Sonst hätte er mich wohl schon „hinausgebeten“ (Dr. Mollis würde
nie jemanden „hinauswerfen“ oder es hat noch keiner geschafft, ihn dazu zu
bringen). Er weiß, dass er sich von mir fernhalten sollte, weil ich ihn sonst
zu sehr mit seinen „verbotenen“ Bedürfnissen konfrontiere. Vielleicht empfindet
er es als gefährlich, wenn er mich zu nah an sich heran lässt. Ich kenne das
alles. Auch ich habe mein Zimmer aufgeräumt und mir die Familienbilder
hingestellt, um dem Unausweichlichen entgegenzuwirken. Zwecklos, aber eben eine
Entwicklungsstufe. Manchmal habe ich den Eindruck, dass ich ihn in Sicherheit
wiegen möchte, dass ich gar nicht so gefährlich bin, nur um dann im
entscheidenden Moment da zu sein und an sein Herz zu appellieren. Vielleicht wächst dann doch wieder ein Blatt an einer toten Pflanze? Naja, ein
bisschen Flirten wird ihn schon nicht überfordern. Ich merke, dass das für
mich immer noch ein Problem ist: Wie konnte ich den armen Mann nur in diese
Situation bringen?
Als
ich beschließe zu gehen und dies auch umsetze, dankt er mir, dass ich gekommen
bin und sagt, dass es ihm leid tue in mein Gespräch reingeplatzt zu sein (mir nicht).
Als ich die Tür zu seinem Büro von außen
schließe, bin ich schön positiv aufgeladen, dass ich mich getraut habe, zu
ihm zu gehen. Mehr Risiko wird belohnt. Soviel für jetzt, mal schauen welche
Risiken sich noch ergeben.
"I’d rather burn with desire deep in my soul,
And love like a fire that’s out of control,
And laugh and dance and fall
and chance and kiss
I’d rather live my whole life
with a sense of abandon,
Squeeze every drop out,
no matter what happens.
And not wonder what I've missed
I’d rather risk."
Paul Brandt - Risk
Risikofreudige
Grüße von Eva
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