Dienstag, 13. November 2012

"Say goodbye to the world you thought you lived in"



Ich bin auf der Arbeit und kann mich nur schwer konzentrieren. Bin immerzu abgelenkt, gehe eine Stunde zu früh in die Kantine, verliere das Zeitgefühl und bin einfach so aufgewühlt, dass es schlichtweg kaum auszuhalten ist.
Meine Warterei auf eine passende Gelegenheit hatte den Effekt, dass ich mir noch sicherer geworden bin, dass ich es ihm erzählen muss. Und heute auf der Autofahrt hierher wurde mir bewusst wie traurig ich mit der aktuellen Situation bin. Da rollte mir schon die eine oder andere Träne übers Gesicht. Nicht nur aus Traurigkeit, sondern auch aus der absoluten Gewissheit heraus, etwas ändern zu müssen und genau zu wissen wie. Ich war mir innerlich so sicher, ich hatte meinen Weg gewählt. Egal, was die Konsequenzen sein würden. Ich würde mich meinem Schicksal fügen.


„Wer die Dinge nimmt wie sie sind,
verpasst die Gelegenheit, sie besser zu machen.“

(unbekannt oder weiß jemand von wem das ist?)

Ich habs endlich getan! sage ich mit Erleichterung.

Ich habe ihn tatsächlich um ein Gespräch gebeten! sage ich mit einer unsäglichen Anspannung, denn mein Weg kommt erst noch. Ab jetzt wird sich alles ändern. Ich gehe in eine andere Wirklichkeit ("Any other world")





Hier nun MEINE Gelegenheit, auf die ich so lange gewartet habe:
Ich traf ihn heute in der morgendlichen Besprechung. Mein Masterplan wie an jedem Tag in der letzten Woche: Ihn um ein Gespräch bitten. Dazu brauchte ich ihn allein. Ich hatte mir vorgenommen bei der nächsten Gelegenheit zuzuschlagen. Dann teilte er mir mit, dass er heute nicht mit zur Visite kommen würde, worauf ich - innerlich erleichtert nicht allein auf ihn zu treffen, weil ich dann ja hätte aktiv werden müssen - mit der Assistenzärztin auf die Visite ging. Wir hatten gerade zwei Klienten gesehen, da sah ich ihn schon wieder auf dem Stationsflur herumlaufen. Er kam zurück und sagte, dass er aus Mangel an Klienten in seiner Sprechstunde nun doch mit zur Visite kommen würde. Okay, gut. 
Später als ich mich dann aus der Visite ausklinken wollte - ein weiterer Versuch seiner Gegenwart und damit der Gelegenheit und dem Gespräch zu entgehen - sagte ich kurz und freudig-erleichtert 

"Bis später." 

Innerlich war ich irgendwie beruhigt mit dem Gedanken "Ein anderes Mal vielleicht...." Ich komme mir ein bisschen wie auf der Flucht vor. Ich hatte gerade die Stationstür hinter mir gelassen als ich seine unverkennbaren Schritte hinter mir vernahm und ihn rufen hörte

"Eva?" 

Er – ruft – mich! Mit – meinem – Namen (und ganz ohne Rechtschreibfehler)! Bei diesem Ruf hielt ich inne und drehte mich um. Als er bei mir angelangt war, fragte er freudig 

"Gehst Du rüber?"

was wohl bedeuten soll, dass wir den gleichen Weg haben würden. War wohl nichts mit der Flucht. Okay: Innerliches Alarmsystem gestartet. Das ist die Situation, die ich brauche: Wir beide allein ohne dass andere mithören, laufend und sich nicht beklemmend gegenübersitzend. Und dann erzählte und erzählte er, so dass ich innerlich vor lauter Unfassbarkeit die Augen verdrehen musste. Einfach unglaublich. Ich habe keine Ahnung mehr, was er da eigentlich alles erzählte, kann mich nicht erinnern. Ich suchte ständig einen Moment, um einzuhaken und das Gespräch auf mein Anliegen zu lenken. Ich sah unseren Weg immer weiter voranschreiten, die verfügbare Zeit schrumpfen. Bald wäre nicht mehr genug Weg übrig, um ihn zu fragen. Wir traten an die frische Luft, um über den Hof zu gehen. "Das ist gut" dachte ich "frische Luft und neuer Mut ihn zu fragen". Und dann sagte ich schließlich und ihm sanft ins Wort fallend 

"Du … mal was anderes ...“ (in diesem Moment hatte ich bereits seine gesamte Aufmerksamkeit) „… ich würde gerne etwas mit Dir besprechen." 

11 Worte, die alles unstoppable ins Rollen gebracht haben. Und dabei schaute ich ihn von der Seite an und sah ein kleines Lächeln - Wo kam es her? Wo wollte es hin? - seine Mundpartie umspielen. Das fand ich ungeheuer toll. Er bemerkte garantiert, dass ich etwas Privates von ihm will. Warum sollte er sonst so lächeln? Er fragte nicht worum es geht. So als wäre es klar, dass ich ihm das nur in dem Gespräch mitteilen konnte. Er stimmte sofort zu:

"Ja, klar. Gerne."  Es war so entwaffnend einfach. Ich sagte ihm sofort (wie gut, dass ich das auswendig gelernt hatte)

Es ist nicht dringend aber wichtig... und braucht etwas Zeit.“ Es muss nicht heute, morgen oder nächste Woche sein. Und am besten muss es gar nicht sein, aber das sagte ich ihm natürlich nicht. 

Er fragte mich wie viel Zeit ich denn so bräuchte. Und ich überwand mich, ihm eine Zeitangabe zu machen.  

"Eine halbe Stunde?" Den Rest Deines Tages (es war ja erst Morgen) oder gar den Rest Deines Lebens? Keine Ahnung, ob ich das richtig einschätze. Ich habe so etwas noch nie gemacht. 

Damit gab er sich zufrieden und fing an laut zu planen, wann wir uns treffen könnten. Er ist unglaublich! Wie kann er das nur so seeleruhig tun? Ok, er weiß ja nicht worum es geht. Bei seiner Planung kam heraus, dass wir es am besten noch heute machen sollten. Wie bitte? Das überforderte mich. Ich hatte ihm doch gesagt, dass es nicht dringend ist. Warum setzt er das so schnell um? Abwiegelnd sagte ich ihm, dass ich bald die erste Klientin sprechen würde und er stellte fest, dass seine Sprechstunde nun wohl doch losging, so dass wir unser Treffen auf einen unbestimmten aber nahen Zeitpunkt verschoben. 

Es wid ein Gespräch geben!
Ich war schon völlig durch als mich gegen 8.45 Uhr (so gegen 8.30 Uhr hatte ich ihn gefragt) eine Kollegin einer anderen Abteilung anrief und unbedingt sofort eine Unterschrift von mir brauchte. Als ich den Hörer am Ohr hatte und versuchte sie wegen meiner allgemeinen emotionalen Überforderung (AEÜ - eine neue Störung) abzuwimmeln, schaute der lauernde Flo bei mir zur Tür herein. Mit Gesten gaben wir uns zu verstehen, dass ich gleich zu Ende telefoniert haben würde. Innerlich fuhr ich bereits wieder hoch falls ich überhaupt je runtergefahren war. Er ging diskret nochmal aus dem Zimmer. Ich wimmelte meine Kollegin irgendwie ab, konnte jetzt wegen allgemeiner Unzurechnungsfähigkeit sowieso keine Unterschriften vergeben. Dann ging ich auf den Flur, um Flo wieder hereinzuholen. Er sah mich wohl nicht, so dass ich wieder hineinging und bald darauf wieder seine Schritte hörte. Gut, dass ich ihn immer herannahen höre. So kann ich wenigstens etwas gefasst sein. Wenn ich das hier so aufschreibe, muss ich feststellen, dass wir heute Morgen ganz schön umeinander herumgeschlichen sind. Heute Morgen…

 - Oh, Gott sein Dank. Hier, in der realen Situation höre ich gerade jemanden aus dem Aufenthaltsraum kommen und dachte schon er wars. Ich bin ja hier immer noch auf Abruf, jederzeit auf der Lauer, dass er wieder in meiner Tür stehen könnte. - 

…Und als er heute Morgen so in meiner Tür stand, d.h. nein, er stand nicht in der Tür. Er kam herein und schloss die Tür sogleich hinter sich. Ein sicheres Zeichen, dass er registriert hatte, dass ich etwas unter vier Augen mit ihm besprechen möchte. Ich kann ja auch verstehen, dass er offensichtlich gespannt war, was ich ihm mitteilen will. Er meinte er hätte wider Erwarten doch jetzt Zeit (So ging das schon den ganzen Morgen: Ja, Nein, Doch, Vielleicht, Ja, Nein, Doch...) und wir könnten doch jetzt reden. Ich zögerte einen Moment. Es war 10 vor 9. Meine Klientin saß wahrscheinlich schon im Wartezimmer. Ich sagte ihm das. Ich hätte ja auch die Patientin eine halbe Stunde warten lassen können, aber ich wusste nicht in welchem Zustand ich nach dem Gespräch sein würde. Ich hätte jedenfalls gerne keine wartende Patientin vor der Tür, wenn ich hinter der Tür gerade mein Innerstes nach außen kehre. Ich sagte ihm auf die Zeit bezogen 

"Das reicht mir nicht." Und noch soviel wie "sehr gerne". Und er sagte sich seinerseits zurückziehend "Sag bescheid".

Es ist jetzt halb 2 Uhr. Ich rechne heute nicht mehr damit, dass wir zu einem Gespräch finden. Ich werde die Arbeit gleich fluchtartig verlassen. Er hat noch 2 Klienten in seiner Sprechstunde, aber man weiß ja nie. Erst recht nicht heute. Ich weiß, dass es ein Ende haben wird. Es ist jetzt nochmal sehr aufwühlend und ich werde wohl solange wie ich auf das Gespräch warte, nicht mehr schlafen können, mich nicht mehr beruhigen können. Sein Lächeln und seine spontane, interessierte Zuwendung ermutigen mich, das Richtige zu tun. Es überhaupt zu tun. Ich möchte gerne wissen, welche Gedanken er sich zu dem Thema macht. Er fragt sich bestimmt, was ich mit ihm bereden will, aber er ist auch so vorsichtig, mich das nicht direkt zu fragen. Er hält die Spannung kaum aus, will wissen, was es ist. Er spürt, dass er das nicht zwischen Tür und Angel besprechen kann. Er sollte sich schon mal innerlich von seiner Weltsicht und von seiner Sicht über mich verabschieden. Say goodbye to the world you thought you lived in... 

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