Montag, 5. August 2013

Selbsthilfegruppe mit Flo

Liebe Mathilda,
 
nach den Geschehnissen der letzten Woche, muss ich mich erstmal wieder auf der Arbeit zurechtfinden. Ich versinke in Bewerbungen um die neu geschaffene Stelle. Da bleibt nicht viel Zeit für Flo. Und außerdem ist das auch der vorsichtige Versuch, Abstand zu halten. Dennoch gab es eine nette, intensive Begegnung mit ihm am Morgen.
 
Außerdem habe ich seit heute eine Praktikantin, die ich völlig vergessen hatte. Brav sitzt sie als ich auf der Arbeit ankomme vor meinem Zimmer. Seither habe ich sie im Schlepptau - also keine Begegnung mit Flo allein. Ich lasse sie im Konferenzraum zwischen Flo´s und meinem Stammplatz Platz nehmen. Ich brauche Abstand, will die Kontrolle behalten bei der Konfrontation mit Flo. Er kommt herein, sieht blendend aus, blendet mich. Auf meinem Gesicht macht sich ungewollt ein strahlendes Lächeln breit, dass wohl schon irgendwie auffällig ist. Die nonverbale Ebene haut mal wieder durch, egal wie halbherzig man sich vornimmt, auf Abstand zu gehen. Flo schenkt mir von Weitem ein herzliches Guten-Morgen. Auch andere Mitarbeiter sagen, dass es so schön ist, dass ich wieder da bin. Mal ehrlich, das höre ich doch ganz gerne und freue mich. Mit einem Seitenblick erhasche ich, dass er zu seinen herkömmlichen Klamotten (karriertes Hemd) zurückgekehrt ist, und das so sexy lockere T-Shirt von vor meinem Urlaub wieder verschwunden ist und bin etwas enttäuscht darüber. Was habe ich erwartet? Dass er mich im Suferlook und Flip-Flops begrüßt?
Auf dem Flur fragt er mich wie mein Urlaub war. Ich sage "Schön und zu kurz (...um einen Blog über Dich zu schreiben" - denke ich). In der morgendlichen Übergabe gab es mehrere akute Fälle für mich, so dass Flo mir nett und um mich besorgt? "erlaubt", mich erstmal zu sortieren und "in Ruhe anzukommen". Ein Therapeutenspruch, den er sich wohl irgendwo abgeschaut hat?

Nach der Besprechung bin ich auf dem Weg zurück auf die Station. Ich merke, dass Flo auch auf dem Sprung ist, dorthin zu gehen. Erst will er los und ich bin noch in ein Gespräch verwickelt, dann will ich los und er ist noch in ein Gespräch verwickelt. Schließlich gehe ich los und wünsche mir, dass er hinterher kommt. Nichts mehr übrig vom halbherzigen Abstandshalter. Mein Wunsch erfüllt sich. Flo sprintet durchs Treppenhaus bis er mich und meine Praktikantin eingeholt hat. Wir nehmen sie in die Mitte. Das letzte Aufflackern meines Kontrollbedürfnisses. Ich beziehe ihn sofort mit ins Gespräch ein. Es geht um ein Kind, was soeben bei der Geburt gestorben ist. Ja, so heftig das auch ist, es passiert. Sie fragt, ob das häufig vorkommt und ich reiche die Frage an Flo weiter, der das besser als ich wissen muss. Unverhoffterweise lasse ich im Gespräch persönliche Erfahrungen blicken, berichte von meinen ersten Tagen in dieser Klinik als gerade eine Frau während der Geburt gestorben ist, dass mich das aktuelle Geschehen daran erinnert und damals sehr betroffen gemacht hat. Flo berichtet darauf (wir sind nun auf der Station angekommen), dass er auch mal einem Kind ohne Vitalzeichen auf die Welt geholfen hat, dass schließlich reanimiert werden konnte. Das ist der Zeitpunkt, wo wir stehenbleiben und der "Abstandshalter" zwischen mir und ihm verschwunden ist. Ich schaue ihn an, ganz nah und intensiv. Er sieht so betroffen aus. Richtig traurig. Habe ich noch nie so bei ihm gesehen. Bin froh, dass er mir das zeigt. Würde mich wahrscheinlich über alles freuen, was er mir zeigt. Aber bei meiner Affinität für depressive Situationen geht mir das schon durch und durch. Etwas verzweifelt sagt er, dass das Kind bestimmt schwerstbehindert ist. Dann lenkt er von sich ab und meint, dass die beiden Ärztinnen, die bei der heutigen Geburt dabei waren, sicher auch Entlastungsmöglichkeiten brauchen. Ich stimme ihm zu, denke aber, das es ihm auch ganz gut tun würde, mal über seine alten Kamellen zu reden. Er flüchtet auf die Toilette, ich in den Aufenthaltsraum, wo ich mir und meiner Praktikantin Kaffee einschenken möchte. Plötzlich ist Flo wieder da und stellt seine Tasse dazu. Ok, wir teilen. Macht man doch so in Selbsthilfegruppen. Ich schenke ein, Flo bedankt sich und geht wortlos in seine Sprechstunde.
 
Fazit: Wenn ich was blicken lasse, stimmt Flo mit ein und lässt auch was blicken. Das hatten wir doch aber alles schon. Und was soll das werden? Eine kleine Selbsthilfegruppe für betroffene Therapeuten und Ärzte? Wenn ihn das dazu bringen kann, etwas von sich zu zeigen, nur zu.

Dazu passend meine Zeile des Jahres von Tim Bendzko. Das ist Poesie.:

"Stell Dir vor alle Ängste würden weichen.
Sie würden aufstehen und gehen.
Stell Dir vor unser Leichtsinn würde reichen,
Unsere Furcht zu übersehen."
Tim Bendzko - Wo sollen wir nur hin




Viele Grüße von Eva

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