Liebe Mathilda,
heute war es soweit, dass ich Flo wiedersah. Wiedersehen ist übertrieben, denn es blieb bei ein paar Augenblicken, die folgende Frage bei mir hinterließen: Gibt es hier ein Suchtproblem?
Ich freute mich schon auf ihn, wusste ja, dass er heute morgen einen Vortrag halten würde. Der Gute ließ natürlich wie es so seine Art ist auf sich warten. Doch bald wurde gemurmelt "Er kommt" oder "Er ist schon unterwegs". Das Gemurmel weitete sich aus zu einem etwas aufgeregten Tuscheln in der Art "Kommt der Prinz?", "Ist der Prinz schon da?", "Wann kommt der Prinz?" Sehr lustig zu beobachten, was Flo mit seinem Gespür für dramatische Auftritte zu produzieren weiß. Schließlich betrat "der Prinz" tatsächlich die Bühne. Er stürmte mit zerzaustem Haar herein, steckte seinen USB-Stick in den Rechner und legte ohne weitere Verzögerungen mit seinen Ausführungen zu einer speziellen Operationsmethode los. Ich hatte keine so gute Sichtposition, konnte ihn nicht direkt anschauen, sondern musste mir ab und zu den Hals verrenken. Dabei fiel mir dennoch auf, dass er zwar frisch rasiert, aber irgendwie ... ich weiß nicht ... einen Anflug von Aufgedunsenheit aufwies? Ich glaube nicht, dass das anderen auffiel, aber ich habe ja sehr feine Antennen, was ihn betrifft. Genauso wie diese leichte Veränderung in seiner Sprache. Er war nicht so zackig und frisch und wie manchmal ein bisschen aufgeregt. Manchmal hatte es den Anschein als ob er sich Alkohol oder ein Beruhigungsmittel eingeholfen hat oder zumindest noch Restalkohol von was auch immer er gestern Abend gemacht hatte in sich hatte. Aus dem "Lokoregionärem Rezidiv" wurde das "Lokoreionäre Residiv". Was ist da bloß passiert? War alles sehr subtil und was er sagte hatte Hand und Fuß. Ich erfuhr auch, dass er im Gegensatz zu den radikalen Operateuren ein Verfechter der Mimimalchirurgie ist, da der Überlebensvorteil nicht nachweisbar, aber die Einschränkungen für die Patienten sehr groß seien. Fast wie die Halsted-Gegner (das ist der mit den radikalen Brustoperationen, gut beschrieben in Siddhartha Mukherjee´s "Biografie des Krebses") - mein Ritter!
Anschließend hatte ich ihn im Treppenhaus ca. 1 Stockwerk für mich und konnte ihn fragen, wo er denn gestern und vorgestern war. Er sagte, dass er mit Eltern und Schwester verreist war. Familienausflug also. Und dabei schön gebechert oder was? Bevor ich das Gespräch vertiefen (und meinen Eindruck der Beschwipstheit verifizieren) konnte, wurde mir Flo vom leitenden und schwulen Orthodäden der Klinik ausgespannt. Schon sehr klischeehaft, was der von sich gab: "Florian, du kannst mir gratulieren. Ich bin jetzt Landesmeister im Halbmarathon." Das hat er tatsächlich so gesagt. Und Flo springt sofort begeistert darauf an und ist ins nächste Gespräch verwickelt. Ich traue den beiden zu, dass sie als nächstes die Serviettenfarbe des Abendessens austauschen. Eva geht ab lautet meine Regieanweisung. Ich muss in mich hineingrinsen: So viel weibliches Einfühlungsvermögen unter zwei Männern. Da kann selbst ich nichts gegen aufbieten. Muss ich auch nicht, denn Flo versteht sich wie gewohnt mit den meisten Frauen und den schwulen Männern super. Mit den Heteromännern und den Homofrauen hat er seine Probleme. Vermutlich, weil die nicht auf ihn stehen. Ist das böse von mir?
Mein Bild von Flo, es bröckelt. Ich kann ihn mittlerweile ganz gut einschätzen. Hat ja auch lange gedauert und er ist wohl der am besten psychologisch untersuchte Arzt - naja, soweit er es zugelassen hat. Was mich wirklich abtörnt ist dieses Vielleicht-Alkohol-Ding. Und - sollte das so sein - damit in den OP gehen, geht ja mal gar nicht. Aus meiner eigenen Geschichte heraus springt dabei mein Helferimpuls überhaupt nicht an. Im Gegenteil, es versetzt Flo noch den letzten Tritt von dem Sockel, auf den ich ihn gestellt habe. Vielleicht wird er nächste Woche etwas tun, das ihn wieder heraufhievt auf den Sockel, vielleicht aber auch nicht. Ich wünsche mir irgendwie, dass es noch nicht vorbei ist. Dazu war es doch zu schön, zu aufregend, zu lebendig. So gesteht sich jeder seine Droge zu. Nur noch eine Weile. Ich brauch da noch eine Weile, um zu akzeptieren, dass auch das vorbeigeht.
"They tried to make me go to rehab, but I said No no no."
Amy Winehouse - Rehab
Liebe Grüße,
Eva
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