Liebe Mathilda,
meinem 3 jährigen Sohn geht es so gut, dass er jetzt noch nicht schläft und ihm ganz lustige Ideen kommen, was er noch alles machen möchte. :-) Und ich selber bin gerade ganz schön belastet durch die Arbeit. Aus irgendeinem Grund gibt es gerade mehrere Mitte 30jährige Klientinnen mit infausten Prognosen und kleinen Kindern. Die Härte ist die junge Frau, von der ich am Dienstag schon sprach. Ich weiß gar nicht, ob du das lesen möchtest, aber es ist nicht nur die arme Frau, sondern es hat auch was mit Flo zu tun. Ich war letzte Woche bei der Visite dabei als ihm verschiedene Symptome bei ihr auffielen und er sie dazu befragte. Es kam raus, dass seit ihrer Krebserkrankung kein Staging mehr veranlasst wurde. Das ist präoperativ unbedingt angebracht, wurde aber weder von ihrer Onkologin, noch von der plastischen Chirurgin, noch von Flo veranlasst. Vor dem Patientenzimmer versicherte ich mich rück, ob solche Untersuchungen nicht vorher (vor so einer Riesenoperation, die man einer metastasierten Frau nicht antun würde) stattfinden sollten. Ich erntete nur zustimmende und betretene Blicke von Flo und Dr. Radio. Seitdem hatte ich ihn praktisch nicht mehr gesehen. Als klar wurde, dass die Frau tatsächlich Metastasen hat, traf ich ihn erst recht nicht mehr. Dazu hatte ich alle möglichen Fantasien: Der CA im Urlaub, er hat viel zu tun und rockt seit 3 Wochen alles gleichzeitig. Er ist sich über seinen Fehler bewusst und verschanzt sich usw. Natürlich rüttelt das ganz gewaltig an dem Sockel, auf dem er immer noch steht. Was ich am schlimmsten fände, wäre eine ungenügende Vorbereitung der Klientin wegen zu großer OP-Geilheit. Das wäre echt das Letzte! Bis heute die Fallkonferenz stattfand, wusste ich nicht wie er zu dem Fehler steht. Ärzte (und Menschen im Allgemeinen) neigen ja leicht dazu, ihre eigene Haut zu retten. Erst letzte Woche, wollte er einen Fall, bei dem dem CA offensichtlich ein Fehler unterlaufen war, vor die Morbiditätskonferenz bringen. Ich war angespannt, ob er mit seinem meines Erachtens viel gröberen Fehler genauso umgehen würde. Ich erwartete, hoffte das, weil ich andernfalls mein Bild über ihn hätte wirklich ändern müssen. Ich komme also zur Fallkonferenz und sehe Flo nach Tagen wieder (mal abgesehen von dem kurzen aneinander Vorbeirennen heute als er zu mir sagte: "Oh, gibt gerade wenig Berührungspunkte, dass wir uns kaum sehen." Ich darauf "Ach, Du arbeitest noch hier." war lustig gemeint, blieb mir aber fast im Hals stecken). Ich sehe, dass er fertig und gebrochen ist (Seine halbe Sprechstunde verbrachte er auf nem Gymnastikball, weil er Rückenschmerzen hat). Er sieht ganz grau und bemitleidenswert aus. Für den Fall der jungen Frau wird sich in der Fallkonferenz viel Zeit genommen. Es werden Mittel, Rettungsmöglichkeiten diskutiert. Das Risiko, dass ihr Herz Schäden von den Medikamenten erleidet, wird in Kauf genommen, weil sie die Spätschäden wohl kaum erleben wird. Kein Wort über das verkorkste Vorgehen. Ich bin fast am Platzen als Heiner, ein OA, stellvertretend für alle die Frage in den Raum stellt, warum die Frau nicht vorher gestaged wurde. Ich weiß nicht, ob Flo das ohne Heiners Aufforderung so gesagt hätte, aber als er reagiert tut er das in genau der angemessenen Art und Weise, die mein Bild von ihm wieder zusammenpflickt. Er sagt, dass das eine Katastrophe für die Frau ist, dass man natürlich hätte vor der Operation untersuchen müssen, dass das ein Fehler war, dass man ihr mit den jetzigen Befunden keine solche Operation zugemutet hätte und dass das einfach furchtbar sei. Und dass er vorhabe den Fall in die Morbiditätskonferenz zu bringen, damit man es bei einem möglichen nächsten Fall besser machen könne. Erleichterung bei mir: Er hat den Arsch in der Hose und ist mit sich genauso kritisch wie mit den Kollegen. Er steht dazu. Das einzige, was er machen kann, um nicht das Gesicht zu verlieren.
Nachdenkliche Grüße,
Eva
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