Liebe Mathilda,
ich fands so schön und berührend gestern bei Dir. Hoffe dein Rücken wird nur noch besser. Was kannst du denn da nicht ertragen?
Flo gab mir gerade eine Privataudienz. Nein, umgekehrt. Ich habe ihm eine gewährt. Sein aktueller Zustand: Er ist in Eile, weil er den CA vertreten muss. Deswegen gabs heute auch keine Was-steht-diese-Woche-an-Besprechung. Als ich das mitbekomme, sage ich zu ihm, dass ich ein paar Dinge mit ihm besprechen müsse und wann es denn passt. Die hatte ich die letzte Woche schon vor mir hergeschoben und gesammelt, weil er da auch so beschäftigt war. Er druckst herum, müsse in die Chefarztrunde, mutmaßt, dass es knapp wird usw. Ich steige da nicht weiter drauf ein, lasse es eher so erscheinen, dass es halt an ihm liegt, ob er über meine Angelegenheiten informiert ist. Und es wirkt! Herrlich einfach dieser Typ.
Betty ist gerade auf der Arbeit angekommen als Flo mit einer Tasse Kaffee bewaffnet zu mir ins Zimmer kommt und fragt, ob es jetzt passt. Gerade eilig sieht er nicht aus. Im Gegenteil, als Betty und ich zustimmen, schließt er die Tür hinter sich und nimmt genüsslich auf dem dritten Stuhl Platz. Mit Bettys Anwesenheit ist es auch etwas weniger gefährlich für ihn. Betty und ich sprechen gerade über eine psychotische Klientin, die mir auflauert um eine versicherungstechnische Angelegenheit mit mir klären möchte, die bereits geklärt ist. Ihren Fall hatte ich bereits lang und breit in der Intervision bearbeitet. Jetzt ist ein Stand erreicht, an dem einfach alle hier über diese Klientin bescheid wissen sollten. Und so habe ich heute die Schwestern informiert. Und auch gleich Flo, der ja nun ganz erwartungsvoll in meinem Zimmer sitzt. Betty und Flo sind der Meinung, dass sie ihre Unterlagen abgeben solle und ein persönliches Gespräch ja gar nicht mehr nötig sei. Und sein Fazit, wenn es doch zu einem persönlichen Kontakt kommt: "Wenn ich hysterische Schreie höre, dann komme ich und rette dich." Die alte Eva in mir schmachtet, die Neue erwartet das einfach! Schließlich ist er zurzeit der einzige Mann hier. Er bringt ebenfalls einen Fall ein, in dem der Mann einer Klientin letzte Woche aggressiv geworden sei. Ja, mit der Empathie oder dem Ich-kann-dich-so-gut-verstehen-und-spiele-mich-selbst-in-den-Vordergrund hatte er es ja schon immer. Was als kurze Informationsrunde gedacht war, driftet schnell in eine emotionale Intervisionsrunde, in der man sich gegenseitig bedauert, ab (unser "Lass-uns-gemeinsam-in-Depressionen-baden"-Syndrom). Flo gibt noch einen weiteren Aspekt hinein, sagt, dass am letzten Donnerstag drei Klienten seine vorgeschlagene Therapie abgelehnt hätten. Als ich ihn frage "Wie geht´s dir denn damit." beginnt Betty unruhig auf ihrem Stuhl herumzurutschen und die traute Zweisamkeit zu stören. Er - natürlich ganz um Haltung bemüht - ".... das ist schon in Ordnung". Ja genau, das glaube ich sofort. Und ich sehe dazu seine sich verschmälernde Oberlippe, die er auch nicht unterm Bart verstecken kann. Ich weiß, was ich sehe! Aufgerüttelt durch Bettys Unruhe sage ich, was ich eigentlich noch sagen wollte. Nämlich, dass sich morgen ein therapeutischer Qualitätszirkel bei uns treffen wird. Er sagt, dass er gerne kommen würde, um die Therapeuten zu begrüßen, aber dass er seine Kinder abholen müsse. Als ob ich das vergessen könnte "...aber nicht am Vormittag." falle ich ihm lächelnd ins Wort. Jetzt hat er keine Ausrede mehr. Weiter im Programm. Ich teile ihm mit, dass ich am Mittwoch nicht an der Fallkonferenz teilnehmen werde, Betty aber da ist. Das ist der Moment, an dem Betty sich verabschiedet, weil ein Klient auf sie wartet. Und sie lässt uns beide allein in meinem Zimmer (was seit gefühlten 800 Jahren nicht mehr vorkam). Wir reden weiter, ob mit oder ohne Betty, macht bei mir keinen großen Unterschied. Bei ihm vielleicht schon. Er schüttet sich fast seinen Kaffee in den Schoß! Überspielend berichtet er von der jungen Frau, die sich letzte Woche ihre letzte verbliebene Brust wegen einer Genmutation hat abnehmen und aufwändig rekonstruieren lassen. Die Operationsmethode wurde hier erstmals mit zwei eingeflogenen plastischen Chirurgen gemacht. Es wurde ein Muskel (der Gracilis) aus dem Innenbereich des Oberschenkels in die Brust verpflanzt. Und es sei ein wirklich schönes Ergebnis geworden. Ich muss lachen. Ich hatte Dir doch erzählt, dass Barbara sich letzte Woche so darüber aufgeregt hatte, dass er den verpflanzten Muskel an seiner ursprünglichen Stelle für überflüssig hielt. Er, der Muskel, sei doch so wichtig für die Abwehr sexueller Übergriffe, so Barbara. Und genau das präsentiere ich ihm dann. Dass Barbara sich aufgeregt hätte, dass er den Muskel zum Beine-zusammenkneifen für entbehrlich hält. Mir gehen Barbaras Überinterpretationen und Männerfeindlichkeiten auf den Kranz. Und außerdem hab ich Lust, ihn mit diesem sexuellen Thema zu konfrontieren. Er weiß nicht wie er reagieren soll, steht auf dem Schlauch. Ist zu solch sexuellen Themen am Morgen (oder überhaupt?) noch nicht bereit. Ich muss etwas nachhelfen mit weiterem Lachen. Er versteht langsam und brubbelt was von "Das würde sie (Barbara) mir ja nie selbst sagen." Eine Aussage über Barbaras professionelle Verschlossenheit oder über meine vertrauensvolle Offenheit? Gähn! Oh manno, mein Retter versaut die Situation. Und dann mehr hilflos als wissend: "Ich kann das sicherlich nicht ganz verstehen (das mit dem Muskel), ich bin ja ein Mann." Ist das eine Frage oder eine Feststellung? Ihm müsste das Beine zusammenkneifen doch gut bekannt sein, so kontrolliert wie er ist. Ich bin ziemlich amüsiert über diese Situation. Betty meint später, dass bei ihr vor dem Beine zusammenkneifen noch einige andere Möglichkeiten, sexuelle Übergriffe abzuwehren, in Frage kämen. Wie wäre es beispielsweise mit dem naheliegenden Schreien? Flo und ich kommen überein, dass wir uns jegliche Operationen mit Muskelverpflanzungen sehr reiflich überlegen würden. Das ist dann wieder sicheres Gebiet für ihn, wo wir eine Gemeinsamkeit finden können. Weichei! Naja, zumindest konnte ich ziemlich entspannt mit ihm reden. Was er so empfindet oder auch nicht empfindet, kann und will ich auch nicht ändern.
Liebste Grüße von Eva
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